Wo können sich Studierende in 30 Jahren zur Berliner Kunst der frühen 2020er Jahre informieren? Zu Netzwerken, Aufführungs- und Ausstellungsorten, zu übergreifenden Themen und heute noch unbekannten Kunstikonen? Wenn alles gut läuft: im Art Doc Archive.
Projektsteckbrief
Förderungen | |
Projekt gefördert von | Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt |
Umsetzung | |
Kooperationspartner:innen | Technische Universität Berlin, Urbane Praxis e.V. |
Angaben zur Projektlaufzeit | 6 Monate (November 2022 – April 2023) |
Projekt-Websites | Plattform: https://www.art-doc-archive.net/ Projektbegleitender Blog: https://reclaim.hypotheses.org/ |
Projektstatus | (Vorerst) abgeschlossen |
Verwendete Technik und Software | Open Source-Tools zur Webarchivierung, KI-gestützte Open Source-Tools zur 3D-Visualisierung |
Kontakt und Austausch | |
Ansprechpartner:innen | Projektteam: team@art-doc-archive.net |
Interesse an Austausch zu | Urheberrechtsfragen, Web-Archivierung |
Was wohl die ersten Betrachter:innen von Edvard Munchs Gemälden dachten und fühlten, als sie vor „Der Schrei“ standen? Mit Sicherheit fragten sich viele, warum er die Landschaft so verschwommen gezeichnet hat oder waren fasziniert vom totenkopfähnlichen, unpersönlichen Gesicht der Figur im Vordergrund. Dass hier die Landschaft zum Ausdruck inneren Erlebens wird und „Der Schrei“ einst von Kunstexpert:innen als stilbegründend bezeichnet werden würde, liegt jenseits dessen, was für sie denk- und fühlbar gewesen wäre.
Kunst wird zwar schon in ihrer Entstehungszeit wirksam, ihre Bedeutung als Zeitzeugin und als Trägerin von Diskursen und Strömungen entfaltet sie aber oft erst Jahrzehnte später. Dann kann sie Auskunft geben über Zusammenhänge, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung noch unter einem Schleier lagen, und ein Licht auf eine frühere Wirklichkeit werfen. Auch deswegen geben wir als Gesellschaft viel Geld dafür aus, sie zu bewahren und öffentlich zugänglich zu machen.
Mit öffentlichen Förderungen tragen wir Sorge dafür, dass auch heute Kunst entstehen kann. Wie aber steht es um die langfristige Archivierung zeitgenössischer Kunst, damit sie in 10, 50 oder 100 Jahren eine Illustration unserer heutigen Zeit sein kann?
Das Problem
Seit den 1990er Jahren hat sich die Selbstdokumentation von Künstler:innen – also ihrer Werke, ihrer Produktionsweisen und -prozesse – schrittweise ins Digitale verlagert. Zunächst auf Webseiten, später dann in soziale Netzwerke – und dort vor allem zu Instagram. Das ist kein Wunder: Eine Website ist im Nu erstellt, sie für einige Zeit hosten zu lassen, ist günstig. Ein Instagram-Kanal ist sogar komplett kostenlos (abgesehen natürlich von der Dauerbeschallung mit Werbung und den persönlichen Daten, die der Meta-Konzern dafür erhebt).
Für das gesellschaftliche Interesse, öffentlich finanzierte Kunst auch nachhaltig, offen und kostenfrei für die Allgemeinheit und zu Forschungszwecken zur Verfügung zu stellen, besteht damit ein Problem: Webseiten von Kunstprojekten werden meist genau so lange betreut, wie Geld dafür da ist. Danach sind sie oft noch für einen längeren Zeitraum online, werden wegen fehlender Updates aber von Suchmaschinen schlechter gerankt und entsprechend schlechter auffindbar.
Bei Instagram bleiben Posts zwar so lange bestehen, wie es den zugehörigen Account gibt. Gleichzeitig sind sie der Logik einer kommerziellen Plattform und der Willkür ihrer Betreiber:innen unterworfen. Für Menschen ohne Instagram-Konto bleibt der Zugang versperrt. Über ihre Betrachter:innen generiert öffentlich finanzierte Kunst dort Werbeeinnahmen für Großkonzerne.
Die Projektidee
An diesem Punkt setzt das Projekt Art Doc Archive an, das sich mit Archivierungsmöglichkeiten für die Berliner Kunst- und Kulturszene befasst und von der Berliner Kulturverwaltung gefördert wurde. Geleitet wird Art Doc Archive von den Kunsthistoriker:innen Anna Schaeffler und Lukas Fuchsgruber, der Rest des Teams bringt Expertise aus IT, Design und der Arbeit in der freien Kreativszene mit.
Ihr Ziel: das „unerschlossene Archiv der Berliner Kultur“ archivierbar zu machen, das sie auf Künstler:innen-Websites und Social-Media-Plattformen ausgemacht haben. Die dort „verteilte Selbstdokumentation der Berliner Kunstschaffenden“ soll aus „kommerziellen Datensilos befreit“, in offene Datentypen überführt und auf einer Archivplattform zugänglich und verknüpfbar gemacht werden.
Ein so ambitioniertes wie in seinen potenziellen (Daten-)Ausmaßen gigantisches Projekt. Deshalb ging es in der ersten Projektphase, die von November 2022 bis April 2023 lief, zunächst um die Entwicklung eines Prototyps, der mit Datenspenden von Berliner Künstler:innen Möglichkeiten auslotet.
Lesetipp
Ingo Hinterding vom CityLAB Berlin zu Prototypen und ihrer Bedeutung in der Software-Entwicklung:
Der Prototyp
Das Grundgerüst von Art Doc Archive, das innerhalb von einem halben Jahr Konzeptions- und Entwicklungsphase entstand, besteht aus drei Teilen, die sämtlich auf Open Source-Software basieren: Art Doc Web, Art Doc Parser und Art Doc Viz.
Mit dem Einverständnis der Künstler:innen sammelt das Archivierungs-Tool Art Doc Web Werke, Texte und strukturierende Informationen, die auf deren Websites und Social-Media-Profilen in ganz unterschiedlichen Formaten vorliegen. Im Anschluss werden diese Informationen in offene Dateiformate überführt.
So können sie auf der zugehörigen Archiv-Plattform in einer neuen, gemeinsamen Infrastruktur ausgespielt werden. Das kann Kunstinteressierten den Zugang erleichtern und Forscher:innen viel Arbeit abnehmen.
Tipp
Auf dem Projektblog findet ihr auch eine Grafik, die die einzelnen Teile des Prototyps und ihr Zusammenspiel erläutert.
Der Art Doc Parser durchsucht die von Art Doc Web gesammelten Inhalte nach Namen, Orten und zeitlichen Angaben. Strukturierten Daten also, die helfen können, die Inhalte verschiedener Künstler:innen zueinander in Bezug zu setzen. So können undokumentierte Netzwerke sichtbar werden, beispielsweise durch Angaben zu Ausstellungsorten.
Art Doc Viz nutzt die Funktionsweise des Hashtag-Mediums Instagram, um Kunst mit anderer Kunst zum Schwingen zu bringen. In Absprache mit Berliner Künstler:innen soll es deren Instagram-Präsenzen archivieren – inklusive der beschreibenden Texte, Hashtags und Kommentare. Außerdem durchsucht es die Bilder mit KI-Technologien nach wiederkehrenden Motiven und Farben.
Das Viz in Art Doc Viz steht für “Visualisierung“: Auf lange Sicht soll man die Datensätze nach Themen, Jahreszahlen und weiteren Kategorien filtern und als dreidimensionale Bildwolken darstellen können. Wie das aussehen kann, zeigte Entwicklerin und Künstlerin Luna Nane bei der Projektvorstellung in den Räumen der Technologiestiftung im Mai 2023 – mit Screenshots. Für eine Live-Vorführung mit gängigen Laptops sind die technischen Anforderungen der Software zu hoch.
Falls Art Doc Archive weitergeführt wid, soll eine Schnittstelle entstehen, die die Daten aus den verschiedenen Projektteilen zusammenführt. Auf der Projekt-Website sind der Prototyp von Art Doc Web sowie die Quellcodes von Art Doc Parser und Art Doc Viz abrufbar. Außerdem findet man Interviews und weiterführende Artikel, die während der Prototypphase entstanden sind.
Die Zukunft
Der entstandene Prototyp zeigt beispielhaft, was gemeinsame digitale Infrastrukturen für die Kulturszene und ihre Erforschung leisten könnten. Der Bedarf an einer Verstetigung ist groß: Das Projektteam bekommt schon jetzt reihenweise Anfragen von Kulturakteur:innen, die ihre Online-Präsenzen archivieren lassen möchten. Anna Schaeffler, Lukas Fuchsgruber und ihr Team können darauf nur antworten, dass das Projekt vorerst beendet ist und die bisher archivierten Webseiten lediglich zu Forschungszwecken dienten.
Auf lange Sicht sollte es attraktive öffentliche Alternativen zu kommerziellen Plattformen geben, auf denen sich die zu großen Teilen öffentlich finanzierte Kunstszene dokumentieren kann. Kurzfristige Projektförderungen können die Initialzündung solcher Entwicklungen sein, bieten aber keine dauerhafte Lösung.
Die Initiator:innen von Art Doc Archive möchten das Projekt fortführen und sind derzeit auf der Suche nach Kooperationspartner:innen. Mit der IT-Infrastruktur einer Hochschule beispielsweise könnten sie größere Datenmengen verarbeiten und ein genaueres Bild davon bekommen, welchen technischen, finanziellen und personellen Aufwand eine langfristige Verstetigung des Projekts bedeuten würde. In einer zweiten Projektphase würden abgesehen von technischen auch Urheberrechtsfragen ins Zentrum rücken.
Wer Ideen für institutionelle Kooperationen oder weitergehende Fragen und Anregungen hat, darf sich gerne beim Projekt-Team melden.
Text: Thorsten Baulig