Bei der kulturBdigital-Konferenz zeigte Tina Lorenz vom Staatstheater Augsburg, wie man als Kulturinstitution mit den richtigen Fragen und viel Experimentierfreude Digitalangebote schafft, die begeistern. Im Gastbeitrag kondensiert sie für euch die wichtigsten Einblicke und Denkanstöße.
Unsere Gastautorin Tina Lorenz war von 2020 bis 2023 am Staatstheater Augsburg für das Digitaltheater verantwortlich – Deutschlands erste fest etablierte Digitalsparte. Ab Januar 2024 leitet sie die Abteilung Forschung & Produktion am ZKM Karlsruhe. In ihrer Keynote zur kulturBdigital-Konferenz 2023 zeigte sie, wie man Sisyphos-Arbeit vermeidet und die eigenen Ziele im Blick behält, statt im Wettbewerb um das vermeintlich innovativste Digitalformat die Bodenhaftung zu verlieren.
Von wegen ‚aus der Zeit gefallen‘
Das Theater ist mitunter sehr gut darin so zu tun, als wäre es ein aus der Zeit gefallenes Kulturgut; alles analog, alles echt und unmittelbar, nichts medial vermittelt – Handy aus, hier passieren Dinge noch in Realzeit. Das ist natürlich Quatsch und wird der modernen, multimedialen, neugierigen und lernenden Institution Theater nicht gerecht.
Auf der Bühne haben komplexe Wechselbeziehungen zwischen analoger und digitaler Präsentation, projection mapping und komplexer Raumklang ebenso bereits ihren selbstverständlichen Platz, wie die ausgefuchste Technik hinter der Bühne. Theater ist ein hochtechnisierter Betrieb. Es sieht nur nicht immer danach aus. Und dabei hat Theater eigentlich schon immer eine Liebesaffäre mit der Technik – seit der Antike hat sich das Theater alle Innovationen einverleibt, um damit Bilder im Kopf des Publikums zu erzeugen, Geschichten zu erzählen, Begegnungen und Gedankenaustausch zu ermöglichen.
Deus Ex Machina, der Gott aus der Maschine, ist den meisten heute nur noch als literarisches Stilmittel bekannt. Im antiken Theater war er wortwörtlich zu verstehen: Hinter dem Bühnenbau kurbelten Arbeiter einen Schauspieler in einem Korb auf die Bühnenfläche, der dann als Gott das Happy End verkünden und die Geschichte auflösen durfte. Ohne den gerade erfundenen Seilzug wäre das nicht möglich gewesen.
Als die Theater in die Innenräume wanderten, wurde Licht zu einem kontrollierbaren Element und somit zu einem eigenen künstlerischen Bereich. In Meiningen machte die Theatergruppe der Meininger so weitreichende Erfahrungen der stimmungserzeugenden Wirkung von verschiedenen Arten der Beleuchtung, dass diese Erkenntnisse bis heute Grundlage dessen sind, wie wir Licht auf der Bühne verstehen und verwenden.
Nach verheerenden Theaterbränden durch nicht ordentlich gelöschte Kronleuchter und explodierte Öllampen waren die Theater mit die ersten, die das elektrische Licht adoptierten (und den Eisernen Vorhang erfanden, der bis heute zwingend in alle Theater einer gewissen Größe eingebaut werden muss, um das Publikum im Brandfall vom Bühnenraum zu trennen).
Zu denken, dass Theater eine analoge Bastion sei, an der die Digitalisierung schon irgendwie vorbeigehen wird, ist also ein Fehlschluss, der weder etwas mit der gelebten Realität an unseren heutigen Bühnen noch etwas mit der Theatergeschichte zu tun hat. Wir sind seit tausenden Jahren Teil der menschlichen Technik- und Innovationsgeschichte.
Wir müssen gar nix – außer neugierig sein
Wenn man erst mal nicht mehr muss, sondern darf, verändert sich die Perspektive auf Digitalprojekte und es fällt leichter, einfach mal loszugehen – auch wenn man sich vielleicht mal verläuft. Es ist sehr einfach, von der schnelllebigen Entwicklung im Digitalbereich nahezu erschlagen zu werden. Man hat das Gefühl, rechts und links ziehen alle anderen Kulturbetriebe an einem vorbei und werden über Nacht total digital. Diesen seltsamen Konkurrenzkampf um den digitalen Kulturbetrieb gibt es aber eigentlich gar nicht, man macht sich oft nur selbst den Druck.
Das Gefühl, dass alle anderen schon im letzten Drittel des Marathons sind, während man selbst noch die Laufschuhe sucht, liegt vielleicht ein bisschen daran, dass wir Vernetzung bisher noch so verstehen, dass wir uns gegenseitig erzählen, was wir Tolles machen. Diese „Best-Practice-ritis“ verschiebt den Fokus ordentlich. Dabei probieren wir ja im besten Falle alle nur rum.
Stattdessen sollten wir Potenziale verschiedener Häuser bündeln, um gemeinsam nachhaltig und nachnutzbar digitale Mehrwerte zu schaffen. Neugier ist dabei das antreibende Element. Und Neugier kann man zum Glück trainieren wie einen Muskel. Wenn wir überwinden, dass wir müssen (die neuesten Entwicklungen rezipieren, den neuesten Trends hinterherrennen, die Sammlung jetzt endlich digitalisieren, das Theater mal eben revolutionieren), dann kommt vielleicht ein Wollen, ein „mal gucken“ ein „Ach, wäre das nicht mal toll, wenn wir…“. Und das ist der bessere Motor. Für alles.
Dazu gehört auch eine Fehlerkultur, die einer lernenden Institution gerecht wird. War das Projekt zu kompliziert? Hatten wir dafür doch noch nicht die richtige Infrastruktur? Hat unser Publikum etwas anderes erwartet? Das einzige Projekt, das nicht erfolgreich ist, ist jenes, welches nie versucht wurde. Wenn wir etwas gelernt haben und wissen, dass das zweite Projekt in die Richtung dafür genau auf unsere Institution, unser Programm, unser Publikum und unsere Ressourcen zugeschnitten ist – hervorragend!
Einen Schritt zurück machen
Was ist eigentlich der Kern dessen, was wir tun? Warum tun wir das und für wen? Aus diesen Fragen leitet sich meistens ganz gut ab, welche Technologien und Vorhaben zu einem passen und welche nicht. Der Schritt zurück eröffnet neue Perspektiven und bietet Möglichkeiten, um nicht aus den alten eingefahrenen Prozessen digitale eingefahrene Prozesse zu machen, sondern nochmal was ganz Neues zu erfinden. Wie die Bibliotheken sich als „Bibliotheken der Dinge“ neu erfunden haben, ohne ihr Kerngeschäft aufzugeben – im Gegenteil.
Für uns am Theater hieß das, zu schauen was Theater für uns eigentlich ist, und die Antwort war nicht „die Guckkastenbühne und die Stuhlreihen davor“. Wenn man sich losmacht von dem, wie Dinge gerade laufen und wieder zurück zum Kern dessen geht, was die eigentliche Mission ist, kann das befreiend wirken und noch mal einen neuen Blick offerieren. Die Perspektivenverschiebung sorgt dafür, dass man Prozesse, Darstellungsarten und Vermittlungsansätze hinterfragt, um vielleicht mal einen neuen Weg einzuschlagen.
Digitale Bühnen funktionieren am Theater anders als meine analogen Gebäude. Es bringt absolut keinen Mehrwert, wenn ich in Virtual Reality ein Theater nachbaue, wo sich mein Publikum mit seinem avatarisierten Hintern auf virtuelle Stühle setzt, um dann eine in 3D nachgebaute Guckkastenbühne anzustarren. Das ist nicht Theater, das ist bloß die Form, die Theater im Matterspace hat, weil wir eben Gebäude haben, die wir bespielen.
Aber ein Theater in VR? Das muss doch kein Gebäude mehr sein, weil Theater von seiner reinen Mechanik her keines benötigt und über weite Teile seiner Geschichte auch keines hatte. Was Digitaltheater stattdessen ist und sein kann, habe ich hier mal aufgeschrieben.
Als wir das Elektrotheater – eine Bühne für das Metaverse – in VR gebaut haben, war uns schnell klar, dass es nicht sinnvoll ist, Gebäude nachzubauen. Wir haben uns stattdessen wieder zurückgezogen auf den Kern dessen, was wir tun und haben für uns eine Mechanik von Theater herausgearbeitet, die sich von den drei Hauptrollen ableitet, die eine Vorführung gestalten: Publikum, Spieler:in und Techniker:in. Von diesen drei Rollen ausgehend haben wir eine Infrastruktur gebaut, die alles kann, was ein Theater auch kann, ohne so auszusehen, wie ein Theater normalerweise aussieht.
Sisyphos ist kein Role Model
Camus sagt ja, man soll sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Ich kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass Camus nie im Mittelbau einer Kulturinstitution gearbeitet hat. Bekanntlich sterben die besten Ideen ja genau dort, im Mittelbau – warum? Weil genauso wichtig wie Projektideen, Innovationsbestreben oder einfach intrinsische Motivation die darum herumliegende Infrastruktur ist, an der digitale Projektleiter:innen in der Regel wenig ändern können.
Wir rollen also unseren Stein – die Digitalprojekte – beständig den Berg hinrauf. Und dieser Berg, das ist das fehlende WLAN auf der Probebühne, die unzureichend ausgestattete Social-Media-Abteilung, das ist die fehlende Hardware und die fehlende Bereitschaft, Zeit für Weiterbildung einzuräumen. Der Berg, das sind aber auch die fehlenden digitalen Verwaltungsprozesse und die fehlende Einsicht, in die Digitalisierung des Betriebes investieren zu müssen.
Und zuletzt ist der Berg auch die Kulturpolitik. Zumindest dann, wenn sie sich nicht dafür interessiert, ob ihre Kulturbetriebe auch im Hinblick auf den Fachkräftemangel noch attraktive Arbeitgeber sind, in denen man nicht jedes Stück Papier dreimal im Haus herumtragen muss, um einen Prozess in Gang zu bringen.
Automatisierung, heißt es, ist Mitarbeiter:innenfürsorge. Was das bedeutet, liegt auf der Hand. Wenn Formulare maschinell unterstützt vorausgefüllt werden (oder ein Algorithmus den Arbeitsprozess optimiert, sodass es das Formular gar nicht mehr braucht…), wenn wir einen digitalen Rechnungsumlauf haben oder ein App-basiertes Inventarsystem, damit wir uns nicht immer halbtot suchen nach irgendwelchen Geräten – dann haben wir mehr Zeit und Energie für die Aufgaben, die Menschen besonders gut können. Nämlich, uns in andere Menschen und deren Bedürfnisse reinzudenken, komplexe Organisationsaufgaben zu erledigen und innovative Ideen zu entwickeln.
Diesen Berg von Bürokratie, Hindernissen und fehlender Infrastruktur abzutragen ist nicht unser Job im Mittelbau der Betriebe. Abräumen müssen den die Chefetage und die Politik. Nur wenn dieser Berg eingeebnet ist, rollt sich der Stein entspannt. Ansonsten kämpft man sich zusätzlich zu den projektinhärenten Herausforderungen noch mit einer Struktur ab, die dafür einfach nicht ausgelegt ist.
Handlungsspielräume nutzen, Ewiggestrige ignorieren
Unser Feld, das Feld digitaler Kulturproduktion und -vermittlung ist nicht immer klar definiert. Wo wollen wir hin, was ist eigentlich unsere Gesamtstrategie damit, was wollen wir erreichen? Nicht jedes Haus hat die Ressourcen, gleich eine langfristige Digitalstrategie zu den eigenen Projekten dazu zu organisieren. Diese Leerstelle kann man sowohl im Haus als auch nach außen nutzen und sich den Raum selbstbewusst nehmen. Wer sagt denn, dass Theater kein Computerspiel sein kann? Wer hat da die Deutungshoheit?
Klar, es gibt immer die, die den Vorwurf machen, man mache jetzt das Theater kaputt und dass das ja nicht mehr das wäre, was man selbst gern sehen würde. Und was ist dann eigentlich mit dem guten alten Onkel Shakespeare, wenn wir jetzt ALLE! NUR! NOCH! am Computer hängen? Dazu kann ich nur sagen: Wir in Augsburg sind immer noch ein sehr lebendiger Fünfspartenbetrieb, der in allen Formen der darstellenden Kunst ein qualitativ hochwertiges Programm für ganz verschiedene Zielgruppen macht.
Bei uns existiert das Mahlerkonzert gleichberechtigt neben dem Ballettabend, der Jugendclubproduktion, der Schauspiellesung und dem Retro-Videospielabend. Die ewigen externen Bedenkenträger:innen darf man also geflissentlich ignorieren und auf den Prozess vertrauen – und auf die Adaptivität des eigenen Systems.
Wir haben in Augsburg irgendwann gesagt, für uns ist automatisch alles Theater, was das Digitaltheater macht. Alles. Einfach deshalb, weil wir ein Theater sind, und deswegen alles, was wir machen, automatisch Theater ist. Wir haben uns als radikal formatinklusiv definiert.
Das Wichtigste ist, dass das Haus neugierig ist und Lust aufs Ausprobieren bekommt. Das funktioniert am besten mit begeistertem Werben. Wenn Digitalprojekte kein lästiger Zusatz, sondern eine aufregende neue Möglichkeit sind, dann stimmt die Perspektive.
Ich habe jedenfalls in drei Jahren Digitaltheater am Staatstheater Augsburg weder das Staatstheater noch irgendeine andere analoge Theaterform abgeschafft. Ich habe erweitert, erschlossen, neugedacht und bin in Kreisen um die schwerfälligen Dinosaurier meiner Branche gerannt, bis alle ihre Laufschuhe gefunden haben und jetzt mitjoggen können. Theater, sagt man immer, ist ein Marathon und kein Sprint. Und ihr habt schon gewonnen, wenn ihr einfach loslauft.
Text: Tina Lorenz