Mit datenschutzfreundlichen und nachhaltigen Tools anspruchsvolle Digitalprojekte wuppen: Was für viele nach der Quadratur des Kreises klingt, versucht das Studio für unendliche Möglichkeiten als ganz normalen Alltag zu etablieren. Ein Ritt durch ihren Werkzeugkoffer und ihren Wertekatalog.
Im Studio für unendliche Möglichkeiten treffen digitalaffine Theater- und Kunstmenschen auf Coder:innen und Projektmanager:innen verschiedener Couleur. Das gemeinsame Ziel: elegante Digitalprojekte für die Kulturszene zu planen und umzusetzen, ohne dabei auf datenethisch oder ökologisch fragwürdige Tools zurückzugreifen.
Wir haben Xenia Kitaeva, Gloria Schulz und Julian Kamphausen zur Alltagstauglichkeit ihrer Prinzipien befragt und wertvolle Tool- und Recherchetipps abgestaubt.
Zu den Personen
Gloria Schulz und Julian Kamphausen gründeten gemeinsam das Studio für unendliche Möglichkeiten.
Gloria studierte Medientechnik, programmierte und entwickelte interaktive Installationen und Bühnenshows und war als Creative Coder*in lange Jahre in der freien (digitalen) Theaterszene unterwegs. Foto: Gloria Schulz
Julian hat in unterschiedlichen Funktionen hauptsächlich in den darstellenden Künsten gearbeitet. Er leitete den „Branchentreff der freien darstellenden Künste“, war leitend an der Konzeption der „Performersion“ beteiligt, war Künstlerischer Leiter des „Hauptsache Frei“- Festivals in Hamburg und ist Mitglied im Kuratorium des Fonds Darstellende Künste. Foto: Gloria Schulz
Xenia Kitaeva ist Digitalexpertin mit einem Hintergrund in den Geisteswissenschaften. Sie arbeitet als freie Mitarbeiterin beim Studio für unendliche Möglichkeiten und fest beim Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin (digiS). Foto: digiS
Datenschutz im digitalen Büroalltag
Hallo, ihr drei! Ihr nehmt euch viel Zeit, um möglichst datenschutzfreundliche und ökologisch nachhaltige Tools für eure Arbeit zu finden. Was hat euch dazu bewegt?
Gloria Schulz: Wir sind der Überzeugung, dass wir eine Verantwortung für die Daten unserer Kund:innen und Kooperationspartner:innen haben – und für die Welt von morgen. Außerdem haben wir die Erfahrung gemacht: Je besser wir kontrollieren können, was die Tools, die wir nutzen, tatsächlich tun, desto zufriedener sind wir auch selbst mit unserer Arbeit.
Wie spiegeln sich eure Ansprüche in eurer täglichen Arbeit?
Gloria Schulz: Du hast uns für dieses Interview einen Microsoft Teams-Link geschickt – vermutlich, weil das euer Standardtool ist. Wir beim Studio nutzen für unsere Kommunikation Rocket.Chat. Das ist ein Open Source-Projekt, das ähnliche Funktionen hat und das wir selber auf Servern hosten, die zu 99 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden – genau wie die Nextcloud, die wir nutzen, um Dateien untereinander und mit Externen zu teilen.
Worin unterscheidet sich Software wie Rocket.Chat oder Nextcloud von den Lösungen großer Tech-Konzerne?
Julian Kamphausen: Um an unsere Kommunikationsdaten oder die in unserer Nextcloud gespeicherten Daten zu gelangen, bräuchte man einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss – eines deutschen Gerichts. In Teams, wo wir uns gerade aufhalten, könnte eine US-Behörde ohne Durchsuchungsbeschluss auf die Daten zugreifen. Das sind die kleinen Lücken, die wir haben.
Xenia Kitaeva: Nextcloud ist vielleicht nicht ganz so smooth und nutzer:innenfreundlich wie Google Drive. Aber dafür bezahlt man die Nutzung nicht mit den eigenen Daten.
Gloria Schulz: Wenn uns jemand einen Google-Drive-Link schickt, sagen wir: Nein, das nutzen wir nicht. Aber hier ist der Link zu unserer Cloud. Die ist datenschutzkonform und ich kann genau sagen, wo die Daten landen – zum Beispiel in Nürnberg, wo einer unserer Server steht. Es ist nicht immer leicht, dieses Prinzip Kund:innen und Projektpartner:innen verständlich zu machen.
Julian Kamphausen: Und gleichzeitig ist es nicht so umständlich, wie es klingt. Dadurch, dass Gloria eine ganze Software-Architektur für unseren Büroalltag gebaut hat, die unseren Prinzipien entspricht.
Aus welchen Teilen besteht diese Architektur noch?
Gloria Schulz: Als Code Editor nutzen wir Microsoft Visual Studio. Das ist zumindest zum Teil ein Open Source-Projekt, dessen Entwicklung man auf GitHub verfolgen kann und das kostenlos verfügbar ist. Unser Projektmanagement wickeln wir seit kurzem über das Open Source-Programm Taiga ab. Man braucht ein bisschen, um sich dort zurechtzufinden, weil das User Interface-Design noch nicht ganz im Jahre 2024 angekommen ist. Aber für uns ist es wichtiger, so zu arbeiten, dass wir die Kontrolle über die eigenen Daten behalten.
Mit welchem Tool geht ihr an kreative Prozesse heran?
Gloria Schulz: Für Mindmaps und Co. nutzen wir Conceptboard. Dahinter steckt ein deutsches Unternehmen, bei dem wir nach kurzer Recherche den Eindruck hatten, dass unsere Daten dort besser aufgehoben sind als bei bekannten Marktführern. Das hat zwar nur zwei Drittel der Funktionen, die wir uns wünschen würden. Gerade, wenn wir Workshops mit Schüler:innen oder Student:innen machen, möchten wir aber verhindern, dass deren Daten wegen uns in alle vier Winde gestreut werden.
Wie flüssig läuft das alles im Alltag?
Gloria Schulz: Als IT-Admin kann es mir schon mal passieren, dass ich am Montagmorgen merke: Ups, ich habe vergessen, das neue Update von Rocket.Chat draufzuschieben. Wegen so etwas geht ein Arbeitstag für alle dann auch mal um 11 Uhr los statt um 10. Aber dann sind wir am Start.
KI-Tools für Videoproduktion, Motion Capture & Co.
Im April wart ihr im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe „KI trifft Kultur“ bei uns zu Gast, um KI-Tools vorzustellen, die die Arbeit von Künstler:innen vereinfachen können. Wie steht es in eurem Alltag um die Nutzung von KI-Tools?
Xenia Kitaeva: Ich halte öfter Vorträge, die KI aus geisteswissenschaftlicher Perspektive beleuchten und die Funktionsweisen von Anwendungen erklären. Um dabei beispielsweise Deep Fakes verständlich zu machen, spiele ich viel mit Audio- und Videogenerierung und -bearbeitung rum.
KI-Tools könnten mir natürlich auch helfen, all die wissenschaftlichen Publikationen zusammenzufassen, die ich für meine Vorträge lese. Dabei lerne ich aber nichts, weil ich mir den Text nicht selbst erschließe. Für Übersetzungen – meist aus dem Englischen – nutze ich DeepL. Auch generative KI-Tools kommen schon mal zum Einsatz – für erste Text- oder Bild-Ideen oder wenn ich gedanklich feststecke. Auch das eine oder andere illustrative Bild habe ich schon generiert – seitdem die Modelle besser geworden sind und weniger Absurdität herauskommt, mache ich das aber seltener.
Wie wichtig findet ihr es, solche KI-generierten Inhalte zu kennzeichnen?
Xenia Kitaeva: Ich finde es sehr wichtig, kenntlich zu machen, wenn ein veröffentlichter Inhalt KI-generiert ist, weil Rezipient:innen erst dadurch lernen, solche Inhalte besser zu erkennen. In Zeiten von Fake News und Desinformation ist das substanziell.
Wie sieht es mit KI-Tools im sonstigen Studio-Alltag aus?
Julian Kamphausen: Aus technischer Sicht kann man sagen: Die aktuell verfügbaren KI-Tools sind auf graduelle Verringerungen von Arbeitszeit und Arbeitsaufwand ausgerichtet – bei wiederkehrenden Aufgaben. Für unseren Anspruch, individuelle Softwarelösungen zu entwickeln, eignen sie sich nicht so gut.
Gloria Schulz: Genau. Beim aktuellen Stand der Technologie haben wir ein besseres Gefühl, wenn der Code, den wir schreiben und die Designs, die wir machen, weiterhin in unseren Händen liegen.
Warum?
Gloria Schulz: Vor kurzem sollten wir Videosequenzen für ein Theaterstück produzieren. Die Videos sollten Glitches enthalten – also Fehlerstellen, an denen die Videoinhalte zuckend oder anderweitig abweichend zur eigentlichen Aufnahme erscheinen. Zuerst haben wir dafür mit KI-generierten Videos experimentiert. Auch nach vielen Versuchen haben wir die aber nicht weit genug unter Kontrolle bekommen, um wichtige Parameter nach unseren Wünschen anpassen zu können. Also zum Beispiel die Helligkeit zu verändern oder sehr kleinteilig einzelne Bildausschnitte zu bearbeiten. Es ist absolut spannend zu sehen, was diese Tools produzieren, um auf neue Gedanken zu kommen – mehr leisten sie für unsere Zwecke gerade noch nicht.
Wie sieht es mit den KI-Tools aus, die ihr bei unserer Veranstaltung zu Bewegungsdaten im April vorgestellt habt? DeepMotion und MoveAI machen die Erfassung von Körperbewegungen so einfach, dass man nur noch eine Handykamera braucht, um 3D-Repräsentationen der eigenen Bewegungen zu kreieren. Das müsste doch auch für eure Arbeit eine große Erleichterung sein.
Julian Kamphausen: Xenia hat ja in ihrem Vortrag beim Workshop dargelegt, dass die KI-Tools hier eben noch eine Blackbox sind. Das heißt: Wir wissen nicht, wie der Algorithmus gelernt hat, können also auch nicht erkennen, wo Fehler in den Aufzeichnungen herkommen, geschweige denn sie ausbessern. Auch die Hersteller der Tools wissen oft nicht, warum sie welche Fehler produzieren.
Die erste Zielgruppe von MoveAI und ähnlichen Anwendungen sind aber ja Hobbynutzer:innen oder Content Creator im nicht- oder semiprofessionellen Bereich. Für deren Zwecke oder auch für Solo-Künstler:innen, die ihr Schaffen auf niedrigschwellige Weise dokumentieren möchten, eignen sich diese Apps durchaus.
Aber ihr setzt beim Thema Motion Capture weiterhin auf die Technologie, mit der ihr vertraut seid und noch nicht so sehr auf Automatisierung?
Julian Kamphausen: Genau. Wir arbeiten weiterhin mit der arbeitsteiligeren Technologie der Bewegungserfassung, also mit Motion-Capture-Suits. Bei ihr können wir herausfinden, wo Glitches und andere Fehler herkommen und können sie beheben. Wenn es um Perfektion geht, ist das die effizientere Technologie. Wer die Motion Capture-Suits selber einmal ausprobieren möchte und etwas Technik-Know-How mitbringt, der kann auch mal in der eigenen Stadt recherchieren. Im Rahmen des Förderprogramms Neustart.Kultur wurden in vielen großen und mittelgroßen Stäten solche Suits angeschafft. Sie liegen inklusive der zugehörigen Technik meist immer noch an öffentlich geförderten Orten rum und können dort ausprobiert werden.
Wenn man nicht weiß, wo die Fehler in einer Software herkommen, liegt die Vermutung nahe, dass man auch insgesamt nicht so genau weiß, was mit den eigenen Daten passiert. Und Bewegungsdaten sind ja ein durchaus sensibles Thema.
Julian Kamphausen: Genau – und nicht nur bezogen auf den Datenschutz. Choreograf:innen denken oft sehr genau darüber nach, wie sie ihre Arbeit verwertungs- und urheberrechtlich schützen können. Der Choreograph William Forsythe beispielsweise hat angefangen, sein ganzes Bewegungsvokabular in 3D-Dateien abzulegen und dann versucht, darüber einen Urheber:innenschutz zu generieren. Wenn man ihn für eine Motion Capture-Aufnahme anfragen würde, wäre seine erste Frage wohl, wie mit den Aufnahmen weitergearbeitet wird und wo sie gespeichert werden. Beides ließe sich bei den genannten KI-Tools nicht zuverlässig beantworten.
Tool-Auswahl bei XR-Projekten
Viele eurer Projekte sind im Bereich Augmented- und Virtual Reality angesiedelt. Welche Software kommt hier bei der Entwicklung zum Einsatz?
Gloria Schulz: Wir entwickeln unsere Anwendungen mit Game Engines, die frei verfügbar sind und nicht nach Hause funken. Die beiden großen Namen sind dabei Unity, was wir für AR-Projekte nutzen und Unreal, was unsere Präferenz für VR-Projekte ist. Bald kommt noch die Godot Engine dazu. Die ist komplett Open Source, was toll ist, bietet aber noch nicht eine so große Bandbreite an Funktionen wie die Marktführer.
Wie steht es um die Tool-Auswahl bei VR- bzw. AR-Brillen? Gibt es auch dort Möglichkeiten, ethische und nachhaltige Entscheidungen zu treffen?
Julian Kamphausen: Bei Hardware ist das wirklich sehr schwer. Die beiden Marktführer Meta [Die Firma hinter Facebook, Instagram, WhatsApp und Threads, Anm. d. Red] und Pico [Subunternehmen von ByteDance Ltd., der Firma hinter TikTok, Anm. d. Red.] haben ganz schwere Datenabflüsse in der Hardware selber drin. Durch die Außenkameras an den neuen Generationen der VR-Brillen filmen die Menschen ihre kompletten Innenräume und alles, was sich darin befindet. Man sollte sich also gut überlegen, in welchen Räumen man diese Brillen einsetzt.
Kann man gegen diesen Datenabfluss irgendetwas unternehmen?
Gloria Schulz: Ein allgemeiner Tipp wäre, für Dienste, denen man nicht vertraut, E-Mail-Adressen zu nutzen, die keine Rückschlüsse auf die eigene Identität zulassen. So kann man die digitalen Spuren, die direkt mit der eigenen Person verknüpft sind, zumindest etwas eindämmen.
Tipps zur Tool-Recherche
Was empfehlt ihr Kulturakteur:innen, die nach ethisch unbedenklichen Tools für ihre Arbeit suchen?
Xenia Kitaeva: AGBs lesen. Die sind mit Absicht so lang und kleingedruckt. Viele Unternehmen sind aber – auch aus juristischem Selbstschutz heraus – tatsächlich transparent, was die Datenweitergabe angeht. Es tut auch nicht weh, sich ab und zu mal zu fragen, ob man dieses oder jenes Tool jetzt wirklich nutzen muss, wenn es einem nicht geheuer vorkommt. Ich habe Fotos meines Gesichts schon bei diversen Bildgeneratoren hochgeladen, weil das für meine Recherchen und Experimente notwendig war. Davon würde ich „normalen“ User:innen erstmal abraten. Man kann sich zum Beispiel einfach bei thispersondoesnotexist ein neues Gesicht generieren und damit weiterspielen!
Julian Kamphausen: Und wenn man bei der Recherche mal nicht weiterkommt: Einfach mal beim lokalen Chaos Computer Club oder bei Tactical Tech nachfragen. Das bietet sich wirklich für alle Menschen an, denen datenethisches Vorgehen wichtig ist – und sei es nur, weil die Auftraggeber:innen darauf bestehen, beispielsweise im Bereich der Kulturellen Bildung. In allen größeren Städten gibt es außerdem regelmäßig Crypto Partys, das sind Selbsthilfetreffen zu Datenschutz- und Tech-Themen, zu denen man einfach hingehen kann, auch ohne großes Vorwissen. Gerade als Solo-Künstler:in sollte man sich aber auch nicht zu verrückt machen. Wer unter prekären Bedingungen arbeitet, darf eh erstmal alles.
Gloria Schulz: Wenn man es sich bei der Tool-Auswahl schwieriger macht, als man müsste, sollte man außerdem den Mut haben, darüber zu sprechen und zu sagen: „Der Trailer, den ich produziert habe, sieht vielleicht auf den ersten Blick nicht so super aus wie deiner, aber das mindert meine Kunst und die Qualität des Produkts überhaupt nicht. Im Gegenteil: Ich produziere unter Bedingungen, die man gut selbst als künstlerische Praxis begreifen kann.“ Hätte das vor fünf Jahren jemand zu mir gesagt, hätte mir das sehr geholfen.
Interview: Thorsten Baulig