Kultur für alle? Interview Digitale Barrierefreiheit im Kulturbetrieb

Anfang der 1980er Jahre war „Kultur für alle“ die entscheidende Formel für die Neuausrichtung der Kulturpolitik und leitete ein Umdenken ein. Dass Zugang und Teilhabe selbstverständlich für alle Menschen möglich sein soll, ist heute für wohl jede:n Kulturakteur:in normal. Barrierefreiheit ist ein entscheidendes Kriterium für „Kultur für alle“ ­­– dabei geht es ebenso sehr um Zugänge zu Gebäuden wie um das barrierefreie Erleben von Kulturerlebnissen im digitalen Raum. Von Navigationen auf Websites bis zur Bedienbarkeit von Interfaces rückt der digitale Zugangsaspekt immer mehr in den Vordergrund.  

Wir haben mit Dirk Sorge von Berlinklusion darüber gesprochen, wie es um die digitale Barrierefreiheit in der Kultur bestellt ist. 

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Aus deinem persönlichen Alltag in der Stadt: Wann ist etwas nur nervig und wann ist es für Dich tatsächlich eine Barriere? Kannst Du ein paar Beispiele nennen?

Nervig sind z.B. die Aufkleber an den Fensterscheiben der U-Bahn. Von innen sind dann die Schilder der Bahnhöfe schlecht zu lesen. Zur Barriere wird das, wenn es keine akustische Ansage gibt, oder die zu leise oder fehlerhaft ist. Nervig sind auch unachtsam abgestellte E-Scooter. Je nach Kontext können sie auch zu einer echten Barriere werden.

Inwieweit empfindest Du einen Unterschied zwischen “Barrierefreiheit” und “digitaler Barrierefreiheit”? Was, würdest Du sagen, ist besonders im Digitalbereich?

Digitale Barrierefreiheit ist ganz klar ein Teil oder ein Aspekt von Barrierefreiheit. Das ist sogar gesetzlich so definiert, da auch Informations- und Kommunikationssysteme in der Definition von Barrierefreiheit explizit genannt werden. Im Gegensatz zu baulicher Barrierefreiheit, ist digitale Barrierefreiheit vergleichsweise leichter umzusetzen. Tatsächlich ist ja HTML als Idee von sich aus eigentlich schon gut geeignet für viele Arten der Anpassung auf der User-Ebene, da ja Inhalt und Darstellungsform getrennt behandelt werden können. Wie in allen Bereichen der Barrierefreiheit fehlt es aber auch hier an Wissen und Willen z.B. von Designer:innen und Programmierer:innen.

Von der Planung zum Besuch einer Kulturveranstaltung: Wo finden sich die Barrieren im Digitalen?

Schon bei der Planung gibt es zahlreiche Barrieren, von denen ich nur mal exemplarisch einige nenne: Mangelnde Informationen im Ankündigungstext, schlechte Auffindbarkeit der Informationen über den Veranstaltungsort, unpassende Sprache, geringe Kontraste, unklare Menüführung, Schwierigkeiten, die Anfahrt zu planen.

Bei der eigentlichen Veranstaltung gibt es dann je nach Kunstsparte und Format ganz unterschiedliche mögliche Barrieren. Das würde hier den Rahmen sprengen und ist Inhalt von ganztägigen Workshops!

Wie hast Du in diesem Zusammenhang die Corona-Pandemie wahrgenommen? Wurde alles zugänglicher, weil alles digital wurde?

Da ich Inhalte gerne digital konsumiere, war es für mich eine gute Möglichkeit z.B. auch an Museumsführungen in anderen Bundesländern teilzunehmen. Was ich offline vielleicht nicht gemacht hätte. Für viele Menschen ist aber das Digitale aus verschiedensten Gründen eine Barriere. Entweder weil die Videokonferenzsoftware nicht barrierefrei ist, oder weil sie Schwierigkeiten haben, sich lange zu konzentrieren, wenn sie auf einen Monitor schauen, oder weil sie gar keinen eigenen Internetzugang haben und dann auf Assistenz angewiesen sind. Das Digitale sollte das Analoge nie ganz ersetzen. Als Ergänzung oder Wahlmöglichkeit ist es aber sinnvoll. Barrierefreiheit muss aber auch hier weiter beachtet werden: Wenn es in der digitalen Veranstaltung z.B. keine Gebärdensprachdolmetschung gibt, ist sie für taube Menschen genauso unzugänglich wie eine Offline-Version derselben Veranstaltung. 

Wenn wir sagen können, dass Barrieren im Zusammenwirken von Umwelt und dem individuellen Menschen entstehen: Wann ist Text oder Sprache manchmal eine genau so große Barriere wie zB. eine Treppe?

Text (oder besser gesagt: Schrift) hat viele Aspekte, die Barrieren sein können: Neben Größe und Kontrast ist auch so etwas wie Zeilenabstand, Länge der Zeilen oder Schrifttype entscheidend für die Frage, wer den Text wahrnehmen kann. Auf der sprachlichen Ebene kann man sich fragen wie viel Vorwissen eigentlich benötigt wird, um den Text zu verstehen. Werden Fremdworte oder Fachbegriffe erklärt, oder einfach als gegeben vorausgesetzt? Werden lange Schachtelsätze benutzt? Ein Text, der in einer Ausstellung im Stehen an einer Wand gelesen wird, sollte z.B, weniger Aufmerksamkeit benötigen als ein Text im Roman, den ich gemütlich auf der Couch in meiner Wohnung lese.

Auch sprachliche Figuren wie Metaphern oder Redewendungen können ungewollt zur Barriere werden, da z.B. Menschen, die eine neue Sprache lernen, damit weniger vertraut sind.

Geht es eigentlich immer um Menschen mit oder ohne Behinderung, wenn wir von Barrierefreiheit sprechen? 

Im engeren gesetzlichen Sinne ja. Aber in der Realität nützt Barrierefreiheit vielen Menschen. Wer heute ein Produkt entwickelt und nicht auf Barrierefreiheit achtet, ist einfach unprofessionell.

Behinderung ist auch nur eine Dimension, die beeinflusst, wann eine Barriere zum Problem wird: Wenn der ÖPNV nicht barrierefrei ist, kann das für eine Person mit Gehbehinderung zum Problem werden. Wenn die Person aber über finanzielle Ressourcen verfügt und sich regelmäßig ein Taxi leisten kann, kann sie der Barriere ausweichen. Wenn ich gut Deutsch spreche und keine Angst vor Bürokratie habe, kann ich vielleicht einfacher Nachteilsausgleiche bei Behörden beantragen als eine Person, die Deutsch als Fremdsprache gelernt hat. Behinderung und Barrierefreiheit muss deshalb auch intersektional verstanden werden.

Wie kann es gelingen, dass wir in Berlin in der Kultur digital barrierefrei werden?

Es sollten nur noch Firmen und Agenturen beauftragt werden, die schon im Angebot belegen, dass sie erstens genug Wissen in dem Bereich haben und sich zweitens auch zur Barrierefreiheit verpflichten. Auch bei Stellenausschreibungen für bestimmtes Personal sollte das als Voraussetzung gelten. Die Ausschreibungstexte sind also ein wichtiger Hebel. Gleichzeitig muss das Wissen im jeweiligen Studiengang und Ausbildungsberufen verpflichtend vermittelt werden und nicht nur als Wahlmöglichkeit (also z.B. Architektur, Design, Informatik, Stadtplanung, etc.).

Welche Rolle spielen offene Daten auf dem Weg zur digitalen Barrierefreiheit? 

Leider sind im Moment vor allem die Angebote der großen Konzerne wie Google, Apple, Microsoft, Meta usw. technisch barrierefrei. Ich benutze z.B. oft den bekannten Kartenanbieter, um mich mit dem Handy und Sprachausgabe navigieren zu lassen. Soweit ich weiß, bietet OpenStreetMap da keine vergleichbare App an, obwohl die Daten ja vorhanden sind. Die Daten reichen aber nicht, wenn das Interface nicht gut funktioniert. Zurzeit müssen sich Menschen mit Behinderung oft zwischen Privacy und Usability entscheiden.

Als künstlerisch tätiger Mensch mit Behinderung: Welche Barrieren entstehen beim Zugang zur Kultur in der Praxis als Kulturakteur:in?

Bei Ausschreibungen für Residenzen, Atelierplätzen, Ausstellungsbeteiligungen etc. wird die Barrierefreiheit in der Regel weder beachtet noch thematisiert. Weder die baulichen Gegebenheiten vor Ort noch die Art der Kommunikation oder die Frage wie Daten geschickt und gelesen werden können etc. (Bewerbungsformular, Eingabemasken, Abrechnungsmodalitäten). Schon gar nicht ist bekannt, dass behinderte Künstler:innen eventuell eine Begleitperson oder Assistenz benötigen, für die dann eventuell auch Honorare oder Reisekosten eingeplant werden müssen, oder einfach nur Platz vorhanden sein muss. Viele größere Kultureinrichtungen fokussieren sich – wenn überhaupt – auf das Publikum mit Behinderung. Auf der Ebene der Künstler:innen oder des nicht-künstlerischen Personals wird Inklusion selten mitgedacht – obwohl das laut UN-Behindertenrechtskonvention genauso dazu gehört und auch im gleichen Artikel genannt wird.

Speziell in Berlin gibt es einen großen Mangel an barrierefreien Ausstellungsorten. Junge, progressive Kunstausstellungen, die eigentlich die Welt verbessern wollen, finden dann im Hinterhof statt, man muss über eine dunkle Kellertreppe und durch ein zerbrochenes Fenster klettern, um überhaupt in den Raum zu gelangen. An eine Vermittlung an Nicht-Eingeweihte wird oft nicht gedacht. Es ist kein Wunder, dass so die Vielfalt der Gesellschaft in der Kunst nicht stattfindet.

Dirk

Dirk Sorge arbeitet als Künstler und Kulturvermittler in Sachsen und Berlin. Er studierte Bildende Kunst und Philosophie und beschäftigt sich mit den Themen Normierung, Technisierung und Inklusion.  Seine Arbeiten umfassen Videos, Installationen, Performances und Computerprogramme. Häufig wird das Publikum direkt involviert und das Konzept der Autor:innenschaft hinterfragt.
Dirk Sorge arbeitete als Vermittler und Berater für verschiedene Museen, darunter die Berlinische Galerie, das Bauhaus-Archiv und das Staatliche Museum für Archäologie Chemnitz.
Er ist Gründungsmitglied von Berlinklusion, einem Netzwerk, das sich für die aktive Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Kunst und Kultur einsetzt.