Wenn die einzige Kollegin krank ist, die weiß, wie die Lichtanlage funktioniert, hat man ein Problem. Es sei denn, sie hat es aufgeschrieben. Nur einer von vielen guten Gründen für den Handbook-First-Ansatz, der die Dokumentation von Arbeitsprozessen zur Pflicht macht.
In vielen IT-Unternehmen haben sich Ansätze etabliert, die es nicht mehr notwendig machen, zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu arbeiten. Der Handbook-First-Ansatz stammt vom Unternehmen Gitlab Inc., das die gleichnamige Plattform für die Verwaltung von Open Source-Software betreibt.
Ob sich ein solcher Ansatz auch für Kultureinrichtungen eignet, hat sich Liga Megne getestet: Als Resilienz-Dispatcherin beim Musicboard Berlin hat sie die Methode für Wissensmanagement in verteilten Teams eingeführt. Auf der LevelUp!-Konferenz von kulturBdigital berichtete sie im September 2022 aus ihrer Arbeit. Ihre Erfahrungen lieferten die Inspiration für diesen Text.
„Handbook first“ kurz erklärt
Beim Handbook-First-Ansatz werden das gesamte im Unternehmen vorhandene Wissen, sämtliche Workflows und Verantwortlichkeiten, alle neuen Lösungswege und Entscheidungen an einem zentralen Ort (dem digitalen Handbuch) festgehalten.
Alle Mitarbeitenden können auf ihn zugreifen. Sobald sich etwas ändert oder es eine neue Entscheidung gibt, wird das zuerst (Handbook first) an diesem Ort notiert und dann mit den Kolleg:innen geteilt. Wenn es einmal ein Problem gibt, schlägt man wiederum zuerst im Handbuch nach, bevor man Kolleg:innen nach Hilfe fragt.
Was nach viel Arbeit klingt, kann auf Dauer gerade für Organisationen mit begrenzten zeitlichen und personellen Ressourcen eine Erleichterung sein. Denn:
1. Alles Wissen an einem Ort zu sammeln, ist einfach praktisch.
Der Drucker spinnt mal wieder? Vor genau diesem Problem standen bestimmt schon andere Kolleg:innen. In einer Organisation, die Lösungswege zentral dokumentiert, wisst ihr, wo ihr in solchen Fällen nachschlagen könnt. Und auch, wo ihr selbst die Lösung notiert, wenn es doch ein neues Problem war. Das fühlt sich dann auch direkt weniger ärgerlich an. Versprochen.
2. Dokumentation stellt den Blick scharf.
Was sind überhaupt die wiederkehrenden Prozesse, die meinen Alltag strukturieren? Aus welchen Schritten bestehen sie und wo hakt es immer wieder, weil Informationen nur langsam übermittelt werden oder Verantwortlichkeiten nicht geklärt sind? Wenn ihr viel dokumentiert, wisst ihr auch am Ende des Tages besser, was ihr gemacht habt. Ein guter Start, um auch die eigenen Arbeitsprozesse kritisch zu hinterfragen und nach und nach zu optimieren.
3. Erfahrene Kolleg:innen werden entlastet.
Praktikant:innen, projektgebundene Kurzzeitverträge und Festivals, die die Zahl der Mitarbeiter:innen temporär verfünffachen: Das Arbeiten im Kulturbetrieb ist ein konstanter Onboarding-Prozess. Ein zentral geführtes Handbuch kann helfen, das flüssiger und ressourcenschonender zu gestalten.
Mit dem Grundsatz „Erst nachschlagen, dann nachfragen“ müssen neue Kolleg:innen zentrale Informationen nicht bei euch persönlich einholen. Ihr wiederum werdet seltener bei der Arbeit gestört – und dürft auch mal selbst auf Festivals gehen, ohne dass dadurch Prozesse ins Schlingern kommen.
Natürlich kann es sehr aufwendig sein, Anleitungstexte zu schreiben – gerade, wenn es um Software oder komplexe Prozesse geht. Kurze Video-Tutorials können hier Abhilfe schaffen, indem ihr z.B. die Benutzung von Software direkt in einem Kurzvideo demonstriert.
Lesetipp
Video-Tutorials mit einfachen Mitteln und ohne Kostenaufwand erstellen:
4. Dokumentation erspart unnötige Diskussionen.
Ein gut geführtes Handbuch ist Regelwerk und Gedächtnis einer Organisation. Wenn sich alle Kolleg:innen darauf geeinigt haben, dass es die eine Quelle der Wahrheit (auch bekannt als single source of truth) ist, erspart das unnötige Diskussionen. Beispielsweise darüber, wer in der Veranstaltungsplanung wofür verantwortlich ist und warum man sich vor einem halben Jahr genau darauf geeinigt hatte. Der aktuelle Stand ist dann immer das, was im Handbuch steht. Was nicht dort notiert worden ist, gilt nicht.
5. Transparenz statt Flurfunk.
Flurfunk ist schlecht fürs Arbeitsklima und kann informelle Hierarchien festigen. Beispielsweise, wenn eure Kollegin schon von einer Entscheidung weiß und ihr nicht, obwohl sie euch direkt betrifft. Wenn alle Entscheidungen, die keiner Geheimhaltungsstufe unterliegen, zentral für alle einsehbar sind, wird das Gefühl von Gleichheit im Kollegium gestärkt.
Gerade, wenn es um Werte und Mission eurer Organisation geht, kann Transparenz auch eine motivierende Wirkung entfalten.
Lesetipp
Erfahrt, wie ihr den Ansatz in eurem Team umsetzen könnt:
Handbook First: In vier Schritten zum erfolgreichen Wissensmanagement
6. Dokumentation verhindert Wissensschwund.
Schon gewusst? In den kommenden 15 Jahren werden knapp 13 Millionen Arbeitnehmer:innen in Rente gehen. Zu ihnen gehören vermutlich auch einige eurer erfahrensten Kolleg:innen. Wenn ihr Wissen nicht mit ihnen aus eurer Organisation verschwinden soll, ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um mit systematischem Wissensmanagement zu beginnen.
7. Die beste Idee gewinnt.
Hierarchien sind der Sand im Getriebe vieler Organisationen – gerade, wenn es um neue Lösungswege und Ideen zur (digitalen) Verbesserung von Workflows geht. Die nämlich sprießen oft eher in den Köpfen junger Kolleg:innen als in denen ihrer Vorgesetzten.
Wenn der bestmögliche Workflow nicht nur zum Ziel erklärt, sondern auch per Dokumentation verfolgt wird, macht das Mut, neue Vorschläge einzubringen. So gewinnt am Ende die beste Idee – was auch die Chefin langfristig nur freuen kann.
Einblicke dazu, welche Auswirkungen die Einführung eines neuen Ansatzes für Wissensmanagement auf die Organisationskultur haben kann, geben Kolleg:innen aus der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der Staatsbibliothek zu Berlin im Interview mit kulturBdigital.
Lesetipp
Social Intranet: Erfahrungen aus der Stiftung Preußischer Kulturbesitz
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Text: Thorsten Baulig