Wie erreichen Kulturinstitutionen die Menschen künftig am besten? Dominika Szope (ZKM) & Prof. Dr. Martin Tröndle (Zeppelin Universität Friedrichshafen) über Trends in der Besucher*innenforschung.
Gemeinsam mit dem Performing Arts Programm des LAFT Berlin sind wir am 5. September 2019 im Rahmen des 7. Branchentreffs der freien darstellenden Künste der Frage nachgegangen,welche Erwartungen das Publikum an Kulturinstitutionen stellt und wie sich Nicht-Besucher*innen erreichen lassen. Dominika Szope vom Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe berichtete hierzu aus ihrer Arbeit und Prof. Dr. Martin Tröndle WÜRTH Chairs of Cultural Production über seine Forschung. Beide Vorträge gibt es hier zum Nachlesen:
Museum als Erlebnisort
Wie erreichen Kulturinstitutionen die Menschen in Zukunft am besten? Was müssen sie Besucher*innen bieten, damit sie ein größeres Publikum anziehen? Und wie können sie digitale Hilfsmittel einsetzen, um diese Ziele zu erreichen? Für Dominika Szope, Leiterin der Abteilung Kommunikation und Marketing am ZKM, sind die Antworten auf diese Fragen eng mit einer Analyse der gegenwärtigen Verfassung der Kunst- und Kulturszene verbunden.
Am Anfang ihres Vortrags zum Thema „Audience Development“ steht deshalb eine Zustandsbeschreibung: Genau wie die Wirtschaft und die Politik befindet sich laut Szope auch der Kunst- und Kultursektor in einer Phase der „Disruption“. Auch hier hat der digitale Wandel einen „epochalen Umbruch“ eingeleitet, technologische Entwicklungen gehen immer rasanter vonstatten und das Verhältnis der jüngeren Generationen zur Kultur hat sich nachhaltig verändert. Für Szope liegt in diesem Moment des radikalen Wandels jedoch nicht nur eine Gefahr für den Kulturbetrieb, sondern auch die Chance, sich und sein Verhältnis zu den Menschen neu zu definieren – insbesondere, weil die Kultur im Gegensatz zu anderen Gesellschaftsbereichen den Vorteil hat, „experimentieren und ausprobieren“ zu können.
Wie das gelingen kann, weiß Szope aus ihrer Arbeit für das ZKM, dessen Aufgabe es ist, die „Kunst in das digitale Zeitalter zu überführen“. Als Beispiel für einen innovativen Umgang mit Besucher*innen nennt sie die ZKM-Ausstellung „Open Codes“. Bei dieser wurde der Ansatz gewählt, die Kultureinrichtung als Erlebnis-, Aufenthalts- und Versammlungsort zu denken, und sich damit vom üblichen „passiven“ Ausstellungskonzept zu lösen. Dafür bot man dem Publikum zahlreiche Sitzgelegenheiten, Arbeitsplätze, freien Internetzugang. Wasserspender, Kaffeautomaten, Obst und gesunde Snacks gaben die Möglichkeit, sich auch längere Zeit im Ausstellunsgraum aufzuhalten. Im Zuge des „Bildungsexperiments“ (Peter Weibel) wurde ein kostenloser Eintritt angeboten. Statt einem Raum im Stile eines „White Cube“, wurde den Menschen also ein Coworking Space angeboten, so Szope. Dies habe den Leuten nicht nur Hemmungen genommen, sich nebenbei mit Kunst und Kultur auseinanderzusetzen, sondern auch für eine gewisse „Selbstverständlichkeit im Umgang mit der Ausstellung“ gesorgt.
Bei der Ausarbeitung des Projekts stand laut Szope vor allem die Erkenntnis im Zentrum, dass man die „Vermittlung“ von Kunst und Kultur weiter denken und den Museums- oder Ausstellungsbesuch vom traditionellen Verständnis des „Sonntagsausflugs“ lösen müsse. Dabei geht es laut Szope aber dezidiert nicht darum, in Museen nur das zu zeigen, was Besucher*innen sehen wollen, sondern vor allem darum, zu erkennen, welche Orientierungshilfen und Angebote sie benötigen, um sich aktiv mit Kunst auseinanderzusetzen und sich freiwillig über sie auszutauschen.
Damit sich ein derartiger Denkansatz in den Kulturinstitutionen durchsetzt, muss sich – geht es nach Szope – jedoch einiges ändern. Dabei sollte der Kulturbereich nicht zuletzt von der freien Wirtschaft lernen, die sich seit jeher stärker am Kunden ausrichtet und oftmals flexibel, schnell und agil arbeitet, wenn sie sich mit veränderten Umständen konfrontiert sieht. „Leadership“ und „Management“ seien deshalb nicht nur einfache Schlagworte, sondern auch im Kulturbetrieb unerlässliche Faktoren, wenn es darum ginge, kulturelle Inhalte wieder für ein breiteres Publikum interessant und vor allem „zugänglich“ zu machen.
Was bewegt Menschen, nicht in Museum, Theater und Co. zu gehen?
Als Inhaber des WÜRTH Chairs of Cultural Production an der Zeppelin Universität befasst sich Prof. Dr. Martin Tröndle vor allem mit der Produktion und der Rezeption von Kunst und Kultur. Ein besonderes Augenmerk seiner Forschungsarbeit lag dabei in der jüngeren Vergangenheit auf einem Nischenthema, der Nicht-Besucher*innenforschung. In seinem Vortrag geht es deshalb um all diejenigen, die in Debatten rund um das „Audience Development“ gerne unterschlagen werden, also jene Menschen, die weder Theater und Museen noch Konzerte und Opern besuchen.
Doch wer sind die „Nicht-Besucher*innen“ überhaupt? In den Klassikern der Kultursoziologie – unter anderem bei Pierre Bourdieu und Georg Simmel – finden sich auf diese Frage laut Tröndle nur unzureichende Antworten. Oft gehe es dabei um das Konzept der „leisure time“, also die Tatsache, dass die Oberklasse ihre Freizeit im Museum verbringen könne, während „das Proletariat“ arbeiten müsse. Ernsthafte Auseinandersetzungen mit den „Nicht-Besucher*innen“, die über diese und andere vage Vermutungen hinausgehen, suche man nicht nur in der klassischen, sondern auch in der modernen Literatur bis auf wenige Ausnahmen vergebens, so Tröndle.
Für seinen Vortrag zitiert er deshalb vor allem aus seiner eigenen Forschung, die zuletzt auch in dem Buch „Nicht-Besucherforschung: Audience Development für Kultureinrichtungen“ publiziert wurde. Dabei wurden in verschiedenen Studien Nicht-Besucher*innen identifiziert, mittels Fragebögen zu den Gründen für ihre Abstinenz befragt und teilweise auch mit zu Kulturveranstaltungen genommen, um ihre Erwartungen an, Vorteile über und Eindrücke von Theateraufführungen und Konzerten abzufragen.
Zu den wichtigsten Erkenntnissen seiner Forschung gehört dabei laut Tröndle, dass die Faktoren „Zeit“ und „Geld“ eine viel kleinere Rolle in der Entscheidungsfindung spielen, als oftmals angenommen. Vielmehr entscheiden vor allem die persönlichen Präferenzen, die Vertrautheit mit Kulturveranstaltungen und der Einfluss des Freundes- und Bekanntenkreises über Besuch oder Nicht-Besuch. Wolle man zuverlässige Indikatoren dafür, wer Kulturveranstaltungen besuche und wer nicht, dann seien Faktoren wie der „Musikgeschmack“ und das „Studienfach“ etwa aussagekräftiger als der „Bildungshintergrund“ und die „Finanzstärke“.
Besonders interessant ist laut Tröndle derweil, dass 96 Prozent der Befragten angaben, „Kultureinrichtungen nur in Begleitung zu besuchen“. Im Endeffekt ginge es für die Menschen also darum, geeignete Partner*innen für Kulturevents zu finden. Die qualitativen Ergebnisse legten derweil nahe, dass Nicht-Besucher*innen genaue Vorstellungen davon haben, wie kulturelle Institutionen auszusehen haben und was in ihnen gespielt wird.
Nimmt man all diese Erkenntnisse zusammen, dann müsse es, so Tröndle, für Kulturinstitutionen in Zukunft vor allem darum gehen, „Nähe“ zu den Besucher*innen aufzubauen. Man müsse sich fragen, wie Kunstorte zu Begegnungsorten werden können und wie man mehr Kontakt zu den Menschen herstelle – sei es durch die Themenauswahl, die Dramaturgie oder selbst oberflächliche Gesichtspunkte wie die Gestaltung von Räumlichkeiten, die mehr Austausch und Immersion ermöglichen.
Kultur-Date als Besuchsmotivation?
Besonders interessiert sind viele Teilnehmer*innen in der anschließenden Diskussion an der Frage, welche Methoden Kulturinstitutionen anwenden könnten, um besser mit Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen in Kontakt zu kommen. Dominika Szope findet, dass (Werbe-)Strategien in Hinblick auf das Audience Development immer flexibel gehalten werden sollten und dass es keine allgemeingültigen Ansprachemethoden geben kann. Zudem müssten auch Kurator*innen bei ihrer Arbeit in Zukunft ein besseres Auge für das potenzielle Publikum haben, ohne dabei die eigene Linie zu verlieren.
Für viel Diskussion sorgt auch die Frage, wie Menschen in Zukunft für den Besuch von Kulturveranstaltungen „gematcht“ oder auf andere Art und Weise zusammengebracht werden können – insbesondere vor dem Hintergrund von Martin Tröndles Forschung und der Erkenntnis, dass viele der „Nicht-Besuche“ vor allem durch einen Mangel an passender Begleitung zu erklären sind. Ein Vorschlag aus dem Publikum ist eine Dating-App, die Menschen über das gemeinsame Interesse an ähnlichen Kulturveranstaltungen zusammenbringt. Eine Teilnehmerin, die bereits an einer solchen Software mitarbeitet, berichtet, dass diese bisher gut angenommen wird. Auch Martin Tröndle glaubt, dass ein derartiger Ansatz von Erfolg gekrönt sein könnte, allerdings nur, wenn „möglichst viele Leute, am besten in ganz Europa“ miteinander vernetzt werden.
Nicht alle der Anwesenden sind jedoch davon überzeugt, dass ein solches Format am Ende auch wirklich mehr Menschen an den Kulturbetrieb binden würde. Ein Mitarbeiter der „Komischen Oper“ berichtet, dass es schon um die Jahrtausendwende ähnliche Versuche gegeben habe, damals noch durch „analoge“ Singleparties im Anschluss an Theateraufführungen. Diese hätten jedoch nur einen Bruchteil der durch die Parties angelockten Besucher*innen dazu gebracht, im Endeffekt auch die kulturellen Angebote wahrzunehmen.
Die Räumlichkeiten von Theatern, Opern und Konzerthäusern für mehr Austausch unter den Besucher*innen und im Sinne von „mehr Nähe“ zum Publikum zu öffnen, halten fast alle Teilnehmer*innen für eine gute Idee. In der Praxis stoßen viele Häuser damit jedoch an ihre Grenzen, da es – so einer der Teilnehmer – oft viel zu teuer ist, „das Foyer noch stundenlang offenzulassen“ oder weil die Räumlichkeiten gar komplett umgebaut werden müssten, um ein entsprechendes Beisammensein zu ermöglichen. Auch für das Angebot von kostenlosem Catering oder anderen „Gimmicks“, wie von Dominika Szope in ihrem Vortrag angesprochen, fehle es ohne Sponsoren oftmals an den nötigen Mitteln.
Fazit: Bedürfnisse der Besucher*innen im Zentrum
Streamingdienste, Online-Bibliotheken, Musikplattformen: Die Liste der digitalen Angebote, die seit einigen Jahren mit althergebrachten Kulturinstitutionen um Besucherinnen konkurrieren, ist lang. Umso dringlicher müssen sich Museen, Theater, Opern und andere Einrichtungen fragen, wie sie ihr Stammpublikum an sich binden und neue Besucherinnen für ihre Programme interessieren können.
Wie die Informationsveranstaltung zum Thema „Audience Development“ der Technologiestiftung Berlin in den Sophiensälen in Berlin-Mitte zeigte, besteht für die meisten Kulturinstitutionen auf diesem Feld noch viel Nachholbedarf. Während in der freien Wirtschaft längst der Kunde König ist und kreative Marketingstrategien gefahren werden, hat sich der Kulturbereich lange geweigert, die Präferenzen von Besucher*innen überhaupt mitzudenken.
Wie die Vorträge von Dominika Szope (Zentrum für Kunst und Medien) und Martin Tröndle (Zeppelin Universität) verdeutlichten, muss dies jedoch nicht bedeuten, dass der Kunst- und Kulturbereich der potenziellen Besucherschaft in Zukunft nach dem Mund redet. Wohl aber müssen die Verantwortlichen erkennen, dass es nicht nur die Qualität des von ihnen vorgelegten Programms ist, das über Erfolg oder Misserfolg entscheidet, sondern auch die Frage, wie „zugänglich“ Veranstaltungen für Besucher*innen sind.
Die Frage, wie Kulturinstitutionen mehr „Nähe“ zum Publikum erreichen können, sollte in Zukunft ernster genommen werden – und das nicht nur in der Auswahl und Ausarbeitung von Inhalten, sondern auch in der Gestaltung von Räumlichkeiten und der Schaffung neuer (vielleicht auch digitaler) Vernetzungsangebote. Von „Kultur-Apps“ über Social-Events im Theater bis hin zu Museen als Coworkingspaces: Kulturelle Einrichtungen werden in Zukunft deutlich kreativer sein müssen, wenn es darum geht, Besucher*innen für sich zu gewinnen. Gerade im Wettstreit um die Aufmerksamkeit der jüngeren Generationen wird es dabei auch darum gehen, Angebote zu schaffen, die Museums- und Theaterbesuche vom Stigma des „Sonntagsausflugs“ lösen und sie wieder in die Mitte der Gesellschaft rücken. Dafür gilt es jedoch sowohl kreativer mit digitalen Angeboten umzugehen, als auch anzuerkennen, dass das einfache Bereitstellen von Ausstellungsraum nicht mehr genügt, um Menschen zu begeistern.
Text: Kai Schnier