Jolanta Paliszewska (jubel³ mit Gebärdensprache e.V.), Dirk Sorge (Berlinklusion) und Cordula Kehr (Referentin für Kommunikation bei Diversity Arts Culture) stellen verschiedene Ansätze für einen barrierefreien Zugang zu Kultur vor – wie etwa die BITV (Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung) und der „WCAG 2.0. Standard“.
(Digitale) Barrierefreiheit ist ein Thema, das Akteure im Berliner Kulturbetrieb beschäftigt. Das zeigte die große Resonanz auf den beiden Informationsveranstaltungen zum Thema in den Räumen der Technologiestiftung Berlin. Handlungsbedarf gibt es zum einen von Seiten des Landes Berlin: Bis zum Jahr 2020 sollen nicht nur öffentliche Verkehrsmittel, sondern auch andere öffentliche Einrichtungen barrierefrei zugänglich sein. Auf der anderen Seite wollen die Kulturinstitutionen von sich aus diesen unerschlossenen Zielgruppen Angebote machen und bestehende Angebote wie z.B. Führungen in Gebärdensprache oder Übertitel bei Nutzer*innen mit Einschränkungen bekannter machen.
In drei Vorträgen von Jolanta Paliszewska (u.a. jubel³ mit Gebärdensprache e.V.), Dirk Sorge (u.a. Berlinklusion) und Cordula Kehr (Referentin für Kommunikation bei Diversity Arts Culture) wurden verschiedene Aspekte des barrierefreien Kulturzugangs behandelt. Ihre Beiträge sind hier dokumentiert:
Jolanta Paliszewska – Auffindbarkeit barrierefreier Angebot erhöhen
Jolanta Paliszewska war Praktikantin bei der Technologiestiftung Berlin und engagiert sich neben ihrem Interfacedesign-Studium unter anderem bei jubel³, einem Verein der gehörlosen Jugendlichen die Taubenkultur näher bringt. Bei ihrem Vortrag zum Thema Barrierefreiheit verdreht Jolanta Paliszewska ihre tägliche Erfahrung ins Gegenteil: Sie redet in Gebärdensprache – ihrer Muttersprache – das Publikum ist auf Gebärdendolmetscher*innenangewiesen, um ihrem Vortrag zu folgen.
Damit geht es den Besucher*innen der Informationsveranstaltung wie 7,8 Millionen Menschen in Deutschland, die zum Beispiel für den Besuch von Kulturangeboten auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Allein in Berlin leben 600.000 Menschen mit solchen Beeinträchtigungen. Die wirklichen Zahlen derer, die von barrierefreien oder barrierearmen Angeboten profitieren, liegt aber wesentlich höher, weil von der Statistik nur Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung erfasst werden. In einer alternden Gesellschaft dürfte die wirkliche Zahl wesentlich höher liegen und in Zukunft noch steigen – ein potentielles Publikum, das Kulturinstitutionen im Blick behalten sollten und auch müssen.
2009 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, die in Artikel 30 explizit die kulturelle Teilhabe von Behinderten als Menschenrecht festschreibt. Das Deutsche Grundgesetz verbietet in §3 Benachteiligung wegen einer Behinderung (Zusatz von 1994). Darauf basieren Bundes- und Landesregelungen wie das Berliner Landesgleichberechtigungsgesetz. Bis 2020 hat sich Berlin das ehrgeizige Ziel gesteckt „Zugänglich für alle“ zu sein. Dabei sind vor allem bauliche Maßnahmen wie Aufzüge an U-Bahnhöfen im Blick.
„Die digitale Barrierefreiheit wird oft nicht mitgedacht“, sagt Jolanta Paliszewska. Ihre persönliche Erfahrung als Gehörlose ist, dass Überblickseiten wie berlin.de oder das Museumsportal ihr nicht die Informationen liefern, die sie braucht, um einen Theater- oder Ausstellungsbesuch zu planen. Oft sind die Angaben zur Barrierefreiheit nicht aktuell oder nicht detailliert genug. „Da steht dann nur Barrierefrei oder ‚nicht barrierefrei‘ zugänglich“, erklärt sie. „Ich brauche es aber genauer: Gibt es den Videoguide mit Gebärdensprache? Sind die Unter- oder Übertitel in Deutsch oder Englisch?“ Gerade die Übertitel, die sich ursprünglich vor allem an fremdsprachige Besucher*innen richten, seien ein tolles Angebot für Gehörlose, in der Community sei das aber kaum bekannt. „Das Hauptproblem ist nicht der Mangel an barrierefreien Angeboten, sondern ihre Auffindbarkeit im Netz für die Gruppen, die potentiell davon profitieren.“ Mögliche Lösungen könnten Suchmaschinenoptimierung oder ein Überblickportal für barrierearme Angebote sein.
Best-Practices: Angebote für Gehörlose
Anne Frank Zentrum & Deutsches Historisches Museum
- Gebärdenvideos direkt in Ausstellungen integriert
- Inhalte ohne Extrageräte oder Führungen erlebbar
- Web-Inhalte in Gebärdensprache leicht findbar
Filterbarer Guide
‚TV für alle‘
- barrierefreie Netz-Zeitschrift zum TV-Programm
- Sendungen lassen sich regulär nach Zeit & Sender, aber auch danach filtern, ob Untertitel oder Audiodeskription zur Verfügung stehen
Hygienemuseum Dresden
- Gebärdensprache-Videos gut in Videoguide-App integriert
- kontrastreiche Schrift für Seheingeschränkte
- taktile Leit- und Bedienelemente
- rollstuhlgerechte Ausstellungsarchitektur
Dirk Sorge – Standards für Barrierefreiheit von Webseiten, Apps und Co.
Dirk Sorge ist Mitgründer der Initiative „Berlinklusion“, einem Netzwerk für Zugänglichkeit für Kunst und Kultur. Zu Beginn seinesVortrags weist er darauf hin, dass das Bundesgleichstellungsgesetz mehr Kulturinstitutionen betrifft, als man auf den ersten Blick denkt. Verpflichtend sind die Vorgaben für Barrierefreiheit nicht nur für Bundeseinrichtungen, sondern für viele Stiftungen und andere Institutionen zum Beispiel, wenn mehr als die Hälfte der Aufsichtsratsmitglieder vom Bund bestimmt werden. Aufschluss über die Vorgaben für die eigene Institution bietet eine Rechtsberatung. Dabei geht es nicht nur um Rechtssicherheit, sondern auch darum, eine große Zielgruppe für Kulturveranstaltungen nicht außen vor zu lassen.
Regelungen gibt es dabei nicht nur für bauliche Einrichtungen, sondern auch für die Webseiten, Apps und andere digitale Angebote von Einrichtungen. Die BITV 2.0 (Barrierefreie-Informationstechnikverordnung 2.0) schreibt als die vier Hauptprinzipien: Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit vor, die wiederum in Anforderungen und Bedingungen untergliedert sind. Außerdem gibt es Prioritäten, die gewichten, wie streng diese Anforderungen ausgelegt werden. Für Startseiten gelten zum Beispiel strengere Regelungen als für Unterseiten. Hier ein kurzer Überblick über die Hauptprinzipien der BITV 2.0:
Wahrnehmbarkeit
Wahrnehmbarkeit meint etwa sinnvolle Beschriftungen zum Beispiel in Alt-Texten von Bildern, bei Buttons und in der Menüführung. Auch das Kontrastverhältnis von Schrift und Hintergrund und die Vergrößerbarkeit spielen hier eine Rolle. Von der Einhaltung dieser Vorschriften profitieren letztlich alle Nutzer*innen: Alt-Texte sind wichtig für die Auffindbarkeit in Suchmaschinen, die Skalierbarkeit stellt sicher, dass eine Webseite auf allen Endgeräten lesbar ist. Andere Anforderungen sind die Bereitstellung von Videos in Gebärdensprache, Untertiteln, Audiodeskription etc.
Bedienbarkeit
Barrierefreie Webseiten sollen auch ohne Maus (z.B. mit Tastatur oder anderen Eingabegeräten) bedienbar sein, Pop-Ups müssen sich ausschalten lassen, bei blinkenden Videos und Graphiken sollte man das Epilepsie Risiko beachten.
Verständlichkeit
Die Inhalte sollten auch in Leichter Sprache angeboten werden. Für die Vorlesefunktion ist es wichtig, dass die Sprache des Textes definiert ist. Die Bedienung der Seite sollte einheitlich und vorhersehbar sein, was letztlich die Usability für alle Nutzer*innen verbessert.
Robustheit
Hier geht es vor allem um die Programmcodes, also um Fehler, die man auf den ersten Blick einer Webseite nicht ansieht. Wenn aber zum Beispiel bei Formularen oder interaktiven Elementen Werte wie name, role und value nicht richtig ausgefüllt sind, können Assistenzprogramme die Seite nicht gut ausgeben. Eine gute barrierefreie Website muss unabhängig vom Ein- und Ausgabegerät nutzbar sein.
Generell gilt: Es gibt im BITV 2.0 viele Anregungen, aber keine Blaupause für das perfekte digital barrierefreie Angebot, weil die Bedingungen unabhängig von der konkret genutzten Technologie formuliert sind. Das muss jedeInstitution passend zu ihren Inhalten entwickeln. Wenn man dabei mit einer Agentur zusammenarbeitet,sollte schon in der Ausschreibung festgehalten sein, dass die Entwickler*innenden „WCAG 2.0. Standard“ umsetzen. Das sind Vorgaben vom Worldwide Web Konsortium, die in dem Bereich den wichtigsten Standard bietet. Wenn eine Agentur diesen Standard umsetzt, kann die Barrierefreiheit ein Zuschlagskriterium sein, auch wenn das Angebot teurer als das von Mitbewerber*innen ist.
Best-Practices: Barrierefreiheit im Web und vor Ort
Onlinekarte Wheelmap
- Finden & Markieren rollstuhlgerechter Orte
- Kulturorte können Rampen, Türbreiten & barrierefreie WCs vermerken
App Greta und Starks
- Audiodeskription oder Untertitel ergänzend zur Kinovorführung
- Seh-und Hörbehinderte sind nicht abhängig von Sondervorführungen
Berlinische Galerie
- führend im Angebot für Blinde & Sehbehinderte
- z.B. Bodenleitsystem & Tastmodelle, App mit Bildbeschreibungen (Bluetooth-Ortung)
Cordula Kehr – Tools für Barrierecheck auf Websites
„Diversity Arts Culture“ ist die Konzeptions-und Beratungsstelle für Diversitätsentwicklung im Berliner Kulturbetrieb. Das Projektbüro für Diversitätsentwicklung will Kunst und Kultur für alle zugänglich machen. Eine seiner Hauptaufgaben ist es deswegen, Kulturinstitutionen dabei zu unterstützen, die Diversität unter den eigenen Mitarbeiter*innen und im Programm (weiter) zu entwickeln und damit ein vielfältiges Publikum anzusprechen.
Um seine Inhalte im Internet möglichst zugänglich zu machen, hat Diversity Arts Culture bei der Konzeption seiner neuen Webseite (www.diversity-arts-culture.berlin) versucht, ein Höchstmaß an Barrierefreiheit zu erreichen. Wobei wir den Begriff „Barrierearmut“ bevorzugen, weil sich bei einem komplexen Onlineangebot niemals alle Barrieren abbauen lassen. Grundsätzlich ist der Begriff „Barrierefreiheit“ auch sehr weit gefasst. Deswegen ist es sinnvoll, ihn zu präzisieren, indem man beispielsweise die Richtlinien nennt, nach denen das Angebot barrierefrei ist: also zum Beispiel von „Barrierefreiheit nach BITV 2.0“ oder „Barrierefreiheit nach WCAG“.
Fallbeispiel: Umsetzung der BITV 2.0 auf der Webseite von Diversity Arts Culture
Farbkontraste: erfüllen erfüllen mindestens die erste Priorität der BITV 2.0
Größen: Seite ist auf 200% skalierbar, ohne dass es zu einem Informationsverlust kommt
Zugang: Informationen in Leichter Sprache und in Deutscher Gebärdensprache sind leicht über die Navigationsleiste auffindbar
Sprachvielfalt: Workshops und Veranstaltungen können nach Angeboten in Englisch und in Deutscher Gebärdensprache gefiltert werden
Infos auf einen Blick: Ein Icon auf den Teaserkacheln zeigt an, wenn ein Angebot in DGS oder Englisch stattfindet. Die bauliche Zugänglichkeit der Veranstaltungsräume wird immer an zentraler Stelle in einem Infokasten genau beschrieben.
strukturierter Websiteaufbau und verständliche Texte: Dazu gehören Abschnittsüberschriften, das Ausschreiben vonAbkürzungen, das Erklären von schwierigen Wörtern in unserem Wörterbuch und ähnliches. Das trägt entscheidend zur Usability der Seite bei, wovon letztlich alle Nutzer*innenprofitieren.
Mehrkanalprinzip: Informationen werden so aufbereitet, dass sie mehr als einen Sinn ansprechen. Für Bilder, Grafiken und Videos gibt es auf der Diversity, Arts and Culture-Webseite beispielsweise immer eine Textalternative. Videos haben nicht nur Untertitel, sondern stehen auch als Textversion in Gänze zur Verfügung, weil Lesegeräte Untertitel in einem Videoplayer oft nicht auslesen können. Zentrale Videoinhalte, die nicht Gespräche sind, werden im Sinne der Audiodeskription ebenfalls in der Textversion beschrieben.
Captchas vermeiden: Ein Sonderfall bei der Entwicklung von barrierearmen Webseiten sind Authentifizierungen wie Captchas, die absichtliche Hürden aufbauen. Sie sollen verhindern, dass sich Bots Zugang zu Anmeldungen verschaffen, bilden aber auch Hürden für Nutzer*innen mit Beeinträchtigungen. Hierfür gibt es noch keine ideale Lösung. Das Team um Cordula Kehr hat sich für ein einfaches Mathe-Captcha entschieden, da es in ihren Augen die kleinste Barriere darstellt. Wichtig ist auf jeden Fall, immer alternative Möglichkeiten zur Anmeldung per Mail oder Telefon anzubieten.
Tipp: Wer von Anfang an mit Selbstorganisationen und Nutzer*innen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen zusammenarbeitet, bekommt nicht nur wertvolle Informationen über Barrieren, sondern auch eine Gelegenheit, seinebarrierearmen Angebote verschiedenen Communities vorzustellen.
Best Practices: Inspiration für barrierefreie Websites
Kultur Inklusiv Label
Ein Label,mit dem in der Schweiz barrierefreie Kultureinrichtungen ausgezeichnet werden. Dadurch entsteht eine gemeinsame Plattform, auf der die Institutionen ihre barrierefreien Angebote veröffentlichen können.
Jetzt einfach machen
Die Webseite für Freiwilligeneinsätze zeigt, dass Barrierefreiheit und gutes Webdesign kein Widerspruch sein müssen. Gerade die globale Umschaltfunktion für Leichte Sprache gibt es viel zu selten auf Webseiten
Für Institutionen, die bereits einen Webauftritt haben, der in Hinblick auf Barrierearmut verbessert werden soll, bieten sich verschiedene Tools an:
„Schnelltest“ von Aktion Mensch
Der Test bietet eine kompakte Einführung in das Thema und eine Liste von Kriterien, mit deren Hilfeman eigene Angebote besser einschätzen kann. Allerdings handelt es sich beim „Schnelltest“ nicht um einen automatisierten Test, sondern um eine Anleitung, um selbst zu beantworten, wie barrierefrei die eigene Seite ist. einfach-fuer-alle.de
„Measure Tool“ von Google
Das Tool untersucht Webseitenautomatisch aufKriterien wie Accessibility, Performance und SEO (Suchmaschinenoptimierung). Die Ergebnisse sind sehr detailliert, erfordern aber teilweise Programmierkenntnisse.Der Test kann ein guter Ausgangspunkt sein, um mit einer Digitalagentur über die Seite zu sprechen. Measure-Tool
Buch „Barrierefreiheit im Internet“
Das Buch „Barrierefreiheit im Internet. Ein Handbuch für Redakteure“ von Domingos de Oliveira bietet eine gute Einführung in das Thema. Auf seiner Webseite kann man einen Newsletter zu Barrierefreiheit abonnieren. netz-barrierefrei.de