Das Barcamp ‘XR und Stadtgeschichte’: Eindrücke und Erkenntnisse

Zerstörte oder nie gebaute Architektur erlebbar machen, historische Figuren aus der Totenruhe wecken: XR-Technologien erweitern den Werkzeugkoffer der Geschichtsvermittlung. Unser gemeinsames Barcamp mit dem Futures Realities Lab der HTW Berlin und Berlin Partner warf neun Schlaglichter aufs Thema XR und Stadtgeschichte. 

Ein junger Mann steht vor der Präsentation seines XR-Projekts. Er spricht mit einer jungen Frau und gestikuliert, sie hört ihm zu. Im Hintergrund stehen weitere Personen in einer kleinen Gruppe zusammen, ein Mann trägt eine VR-Brille.
Teilnehmende des Barcamps beim Rundgang zu den studentischen Projekten. Foto: Chantal Pisarzowski

Wie können Technologien wie Augmented und Virtual Reality genutzt werden, um ein breiteres Publikum zu erreichen und ein neues Bewusstsein für die Bedeutung unserer städtischen Vergangenheit zu schaffen? Welche technischen, konzeptionellen und ethischen Fragestellungen ergeben sich dabei? Mit dem Barcamp ‚Immersive Technologien & Vermittlung von Stadtgeschichte‘ wollten wir am 2. Februar 2024 einen Raum schaffen, in dem diese Fragen diskutiert werden können.

Was ist ein Barcamp?

Das Barcamp ist ein offenes Veranstaltungsformat, bei dem ein Hauptthema vorgegeben wird, die in einzelnen Sessions zu besprechenden Unterthemen aber von den Teilnehmer:innen selbst gewählt werden. Diese bringen dafür eigene Themenvorschläge mit und stellen sie in kurzen Pitches vor. Danach wird abgestimmt. Die Themen mit den meisten Stimmen kommen auf die Tagesagenda.

Organisiert und moderiert wurde das Barcamp von Berlin Partner, kulturBdigital und dem Future Realities Lab der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin.  

Begleitend zum Barcamp präsentierten Studierende der HTW Berlin ihre XR-Anwendungen, die im Rahmen des Semesterprojekts „Unveiling History – Transmediale Schnittstellen zwischen Mensch, Raum und Zeit“ entstanden sind, und boten so einen Einblick in die praktische Umsetzung der im Barcamp diskutierten Konzepte.  

An der HTW wird schon seit langer Zeit und mit viel Praxisbezug zum gesellschaftlichen und künstlerischen Einsatz von Technologien wie Augmented und Virtual Reality geforscht. Noch bis Ende März 2024 läuft dort aktuell ein Open Call der AURORA XR School for Artists. Er richtet sich an Berliner Künstler:innen, die ein XR-Projekt umsetzen möchten. Dem Gewinnerprojekt winken Unterstützung bei konzeptioneller Feinjustierung, Umsetzung und Equipment sowie eine Möglichkeit zur öffentlichen Präsentation.

Auch beim Barcamp zeigten über 90 Teilnehmende aus Wissenschaft und Vermittlungspraxis, Bezirksverwaltung und XR-Szene, dass die HTW genau der richtige Ort war, um neue Kontakte zu knüpfen und über aktuelle Vorhaben und Entwicklungen zu sprechen. 

Das waren die Themen

1. Welche Geschichten würden Nutzer:innen gerne auf einem AR-Stadtspaziergang durch Berlin erleben?

Mit dieser Frage wandte sich Tim Deussen an die Barcamp-Teilnehmer:innen. Er betreibt ein XR- und Animationsstudio und konzipiert gerade einen solchen Stadtspaziergang. In der Session wurde außerdem besprochen, wie räumlich weit voneinander entfernte Orte narrativ miteinander verbunden werden könnten (Eine Idee: Gamification).   

2. Kann man Nazi-Architektur in VR darstellen, ohne sie zu verherrlichen?

Die Pläne der Nazis, Berlin zur Welthauptstadt Germania umzubauen, geben noch heute Auskunft über den Größenwahn, der das gesamte politische System des Nationalsozialismus prägte. Das Projekt „Mythos Germania“ von HTW-Studierenden baut die Pläne Albert Speers in VR nach und setzt sie ins heutige Berliner Stadtbild. Beim Barcamp waren die Macher:innen nicht nur an ethischen Fragen, sondern auch an möglichen Kooperationspartner:innen aus dem Vermittlungs- und Kulturbereich interessiert. 

3. Goethes Wohnhaus in Virtual Reality

Das Goethe-Haus in Weimar muss saniert und für längere Zeit geschlossen werden. In einem Impulsvortrag verriet das Team des BMBF-geförderten Forschungsprojekts Goethe-Live-3D der Klassik-Stiftung Weimar schon vor Beginn des Barcamps, wie virtuelle Rekonstruktionen des Goethe-Hauses in Weimar für Bildung und Vermittlung genutzt werden können – sowohl vor Ort als auch mit digitalem Kulturpublikum. Auch in der Barcamp-Session ging es dann viel darum, welche Rolle VR-Angebote spielen können, wenn Ausstellungsorte oder Kulturinstitutionen temporär geschlossen sind.  

4. Welche Rolle kann XR-Technologie bei der partizipativen Entwicklung von Zukunftsvisionen für unsere Städte spielen?

Zu diesem Thema gab Sebastian Lühring (Projektmanager bei der Alten Münze, einem geschichtsträchtigen Berliner Veranstaltungsort) eine Session. Neben einem Brainstorming zur effektiven Aktivierung der Stadtgesellschaft wollte er die Session auch nutzen, um Teilnehmer:innen für einen Expert:innen-Workshop zu gewinnen. Auch für solche Anliegen ist das Barcamp ein gutes Format. 

5. Aus historischen 2D-Bildern von Berlin ein 3D-Portal in die Vergangenheit erstellen…

… möchte ein Master-Student der HTW – für seine Abschlussarbeit. Beim Barcamp war er für dieses Vorhaben auf der Suche nach Impulsen, Expert:innen-Stimmen und möglichen Kooperationspartner:innen. Einer der größten Fallstricke bei diesem Unterfangen: Ausreichend Bildmaterial zusammenzubekommen. Die Session-Teilnehmer:innen ermittelten mehrere Möglichkeiten, den Zugang zu historischen Bildern zu erleichtern (Crowd-Sourcing, direkter Kontakt zur Kommunikationsabteilung von Archiven) und hatten sogar direkte persönliche Kontakte parat. 

6. 35 Jahre Mauerfall in XR

Alexander Krupp (Kulturprojekte Berlin GmbH) war beim Barcamp, um Ideen für die technologische Umsetzung von Aktionen zum 35. Jahrestag des Mauerfalls zu sammeln. Hier ging es viel um die technischen Herausforderungen, die mit immersiven Anwendungen im Außenraum verbunden sind. Mehr dazu weiter unten in unseren Take-Aways. 

7. Wie können Begegnungen mit 3D-Avataren realistisch und spannend gestaltet werden?

Diese Frage hatte Nele Diekmann von der Agentur Historicity im Gepäck. Für die Erweiterung des eigenen Netzwerks war sie außerdem auf der Suche nach Technikanbieter:innen, Storyteller:innen und XR-Expert:innen. In der Session wurden neben technischen dann auch viele ethische Fragen diskutiert – gerade zur Arbeit mit „avatarisierten“ Zeitzeug:innen. Mehr dazu weiter unten.   

8. Wie kann Künstliche Intelligenz bei der Entwicklung von Geschichten helfen?

Gemeinsam mit Sessiongeberin Silke Ababneh von der Agentur VR4Content diskutierten die Teilnehmenden zu generativer KI als Unterstützungstechnologie für professionelle Storyteller:innen. Dabei stellten sie fest, dass die iterative Arbeit mit KI-Systemen nicht nur gut gegen Denkblockaden helfen, sondern KI-basierte Mustererkennungs-Software auch bei der Neugruppierung und Perspektivenverschiebung in Bezug auf historische Objekte unterstützen kann. 

9. Wie kann Augmented Reality helfen, die kulturelle und architektonische Relevanz des Hansaviertels zu vermitteln?

Das Berliner Hansaviertel war nach dem Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört. An seinem Neubau in den 1950er Jahren waren bedeutende Verteter:innen des “Neuen Bauens” beteiligt. Deren erklärtes Ziel: Wohnarchitektur soll zur Demokratisierung der Gesellschaft beitragen. Der Bürgerverein Hansaviertel setzt sich für die Erhaltung und Pflege des Viertels als “Deutschlands größter Bauausstellung” ein. HTW-Professor Pablo Dornhege vertrat auf dem Barcamp das Anliegen und die Fragen des Vereins. Eine der Erkenntnisse: Für alles im Außenraum Unsichtbare (Baupläne, Grundrisse, etc.) könnte eine AR-Anwendung durchaus Sinn ergeben.  

Das haben wir mitgenommen

Ethische Aspekte

  • XR in der Bildung braucht einen verantwortungsvollen, transparenten Umgang. Für die politische Bildung, zu der auch die Vermittlung von Stadtgeschichte zählt, gilt ein Überwältigungsverbot. Sie soll historische Zusammenhänge anschaulich und vorstellbar machen, dabei aber ausreichend Abstand zu ihren Rezipient:innen wahren, um die Bildung eigener Urteile zu fördern und das eigenständige Denken nicht einzuschränken. Der Einsatz von Technologien, die die Wahrnehmung der Realität verändern und zu Überwältigungserlebnissen einladen, ist in diesem Feld eine Gratwanderung.  
  • Kein XR-Einsatz ohne Kontext und Einladung zur Reflexion. Damit beispielsweise VR-Darstellungen von Nazi-Architektur am Ende keinen verherrlichenden Effekt auf Nutzer:innen haben, sollten sie in eine Umgebung (Gedenkstätten, partizipative Museumsformate) eingebettet sein, die zur Nachbesprechung und kritischen Einordnung des Erlebten ermuntert. Ein anderer Weg, um die Inszenierungstechniken der Täter:innen nicht zu wiederholen, kann es sein, bewusste Brüche zu setzen. In der sehr bewussten Wahl von Sound und Lichtstimmung – oder, indem man die kalte, überwältigende Architektur mit den konkreten Schicksalen von Verfolgten des Nazi-Regimes verbindet. Eine weitere Idee: Stimmen von heute einzufangen, die darüber Auskunft geben, wie bedrückend oder lebensfremd sie eine von Überwältigungsarchitektur geprägte Stadtlandschaft empfinden würden. 
  • Zeitzeug:innen nicht zu Zombies machen. Auch bei der Arbeit mit zum Leben erweckten historischen Figuren oder Zeitzeug:innen, die in Form von 3D-Avataren mit Nutzer:innen in Kontakt treten, sollte Transparenz den Vorrang vor vermeintlicher Authentizität haben – allein schon aus Respekt vor den Verstorbenen, die keinen Einfluss auf ihre posthume Darstellung haben.  

Inszenierung und Storytelling 

  • Das Vorstellungsvermögen unterstützen. Ob Baupläne, Grundrisse oder abgerissene Gebäude: Alles, was im Außenraum unsichtbar ist und ansonsten mit Händen und Füßen erklärt werden muss, kann mit Augmented Reality leichter greifbar werden.
  • Vergangenheit und Gegenwart verknüpfen. AR kann auch genutzt werden, um historische Spuren, beispielsweise der Teilung Deutschlands, mit aktuellen Bezügen zu versehen – durch das Einblenden heutiger gesellschaftlicher Separationsmomente. 
  • Immersiv geht auch ohne XR. Bei zwei Sessions zu Geschichtsvermittlung im Außenraum wurde deutlich: Virtual Reality muss nicht immer die Lösung sein, wenn man immersiv arbeiten möchte. Insgesamt lohnt es sich, nicht von der Technik her zu denken, sondern sich zu fragen, mit welchen Inszenierungs- und Erzählstrategien man den eigenen inhaltlichen Kern am besten vermitteln kann. So stößt man neben der visuellen vielleicht auch auf die auditive Ebene, die ebenso immersiv wirken kann. Zum Beispiel durch Audiowalks mit GPS-Unterstützung, die auch mit Musik oder atmosphärischen Geräuschen unterlegt sein können. Je nach Kontext können solche Formate wirksamer sein als eine VR- oder AR-Anwendung.  
  • Schöpfe ich das immersive Medium, das ich nutzen möchte, wirklich aus? Diese Frage sollte man sich am besten stellen, bevor es an die praktische Arbeit geht. Für einen Audioguide, der mit ein paar Bildern angereichert ist, lohnt sich der Aufwand einer AR- oder VR-Anwendung eher nicht.   

Technik und Organisation

  • Kein XR ohne gute Internet-Verbindung. Eine Herausforderung bei immersiven Lösungen im Außenraum: XR-Technologien benötigen häufig eine große Bandbreite, damit es nicht ruckelt. Einen entsprechend zuverlässigen WLAN-Zugang zur Verfügung zu stellen, ist oft nicht nur technisch schwierig, sondern treibt auch die Kosten in die Höhe 
  • Heiter bis wolkig. Lichtverhältnisse haben einen großen Einfluss auf die Darstellungsqualität – und sind oft nur schwer kalkulierbar.
  • Synergien schaffen. Um den Herausforderungen von möglichst vielen Seiten zu begegnen, sollte man Allianzen schmieden: zwischen Forschung, Vermittler:innen, XR-Studios und Technik-Dienstleister:innen. Auch eine Plattform, auf der bestehende Apps und Formate zur immersiven Geschichtsvermittlung gebündelt abrufbar sind, wäre für die Teilnehmer:innen des Barcamps wünschenswert.  

Fotogalerie

Text: Thorsten Baulig