Für die 6. kulturBdigital-Konferenz kamen am 10. Oktober über 200 Kulturakteur:innen im ATZE Musiktheater zusammen. Unter dem Motto „über übermorgen – jetzt!“ diskutierten sie über neue Wege digitaler Gemeinschaftlichkeit, künstlerische Zukunftsforschung und eine Kulturlandschaft, die sich gegen demokratiefeindliche Strömungen zur Wehr zu setzen weiß. Unser Nachbericht mit ausführlichem Resümee.
Zwischen diversen Welt- und Alltagskrisen, den Heilsversprechen von Big Tech sowie knappen Haushaltskassen schwirrt vielen Kulturakteur:innen der Kopf. Wie denkt und plant man in solchen Zeiten eine wünschenswerte Zukunft?
Mit der 6. kulturBdigital-Konferenz haben wir einen Raum geschaffen, in dem neue Denkweisen und Strategien für das digitale Übermorgen erprobt, eingeschliffene Glaubenssätze über Bord geworfen und neue Allianzen geschmiedet werden konnten. Hier fassen wir die Vorträge und Praxissessions für euch zusammen – und verknüpfen sie in einem abschließenden Resümee.
Und was kam dabei raus?
Die Keynotes
Wenzel Mehnert – Jenseits der Vorstellungen: Andere Zukünfte denkbar machen
Welche technologischen oder sozialen Entwicklungen wir in der Zukunft für wahrscheinlich oder unwahrscheinlich halten, hat viel mit unserem Blick auf die Gegenwart zu tun. In seiner Keynote erklärte Zukunftsforscher Wenzel Mehnert, wie wir unbewussten Glaubenssätzen über das Jetzt auf die Schliche kommen und warum es lohnenswert sein kann, gerade an jenen Ideen festzuhalten, die uns zuerst unrealistisch oder sogar absurd vorkommen.
Zur gesamten Keynote:
Nicolas Zimmer – Einsam digital: Müssen wir die Geschichte von digitaler Gemeinschaftlichkeit anders erzählen?
Was ist aus den Versprechen sozialer Netzwerke geworden, zu mehr Verbindung und gesellschaftlicher Offenheit beizutragen? Welche Konsequenzen drohen, wenn Kultureinrichtungen ihre Besucher:innen-Kommunikation an Chatbots auslagern? Und was müsste geschehen, damit Open-Source-Prinzipien im Kulturbereich endlich eine größere Wirkung entfalten? Ein Rundumschlag zu digitaler Gemeinschaftlichkeit von Nicolas Zimmer, Vorstandsvorsitzender der Technologiestiftung Berlin.
Zur gesamten Keynote:
Mehr zu den Keynotes und zu Querverbindungen mit anderen Konferenzinhalten lest ihr im Abschnitt Take-Aways.
Praxisteil: Eindrücke & Erkenntnisse
Mit Expert:innen mit Behinderungen zu mehr digitaler Barrierefreiheit
Wie können Kulturinstitutionen die Bedarfe einer vielfältigen Gesellschaft in ihren digitalen Angeboten berücksichtigen? Eine Idee: Ein Berliner Netzwerk aus Menschen mit Behinderungen, die als Interessenvertreter:innen und Expert:innen in eigener Sache die Qualität und Nutzbarkeit digitaler Kulturangebote regelmäßig durchleuchten – im engen Austausch mit den Institutionen.
In der Konferenz-Session haben wir diesen Ansatz auf den Prüfstand gestellt, um herauszufinden: Wie könnte eine Zusammenarbeit fair und zielführend gestaltet werden? Zu welchen Themen berät eine solche Gruppe? Und am wichtigsten: Wie können wir das Netzwerk in die Tat umsetzen?
Die Teilnehmenden der Konferenz waren dazu eingeladen, sich diesen Fragen gemeinsam mit den Session-Moderator:innen Andreas Krüger (Referent für Barrierefreiheit und Inklusion, Berlinische Galerie) und Marie Lampe (Vorständin Sozialheld:innen e.V. / Referentin IncluScience) zu stellen.
In der Diskussion offenbarte sich eine große Bandbreite an Ideen für die Zwecke und Funktionsweisen eines solchen Netzwerks. Einigen ging es darum, innerhalb ihres Hauses überhaupt einmal für das Thema Barrierefreiheit zu sensibilisieren oder einen grundsätzlichen Wissenstransfer unter Institutionen anzuregen.
Andere wollten das Netzwerk nutzen, um sich ein konkretes Bild davon zu verschaffen, wie Menschen mit Behinderung digitale Kulturangebote nutzen – um in der Folge die eigenen Angebote zu optimieren.
Ihr wollt dabei sein?
Schreibt uns, wenn ihr euch für das Netzwerk interessiert!
Große Einigkeit herrschte hingegen bei den Rahmenbedingungen, die ein solches Netzwerk schaffen müsste. Ein paar der wichtigsten Punkte: Die Zusammenarbeit zwischen Expert:innen in eigener Sache und Kulturinstitutionen müsste vergütet sein, es müsste seitens der Institutionen rechtzeitige Anfragen und ein verlässliches Terminmanagement mit längeren Planungshorizonten geben. Kulturinstitutionen müssten außerdem die Bereitschaft mitbringen, Entscheidungskompetenz auch abzugeben und Hinweise produktiv aufzunehmen.
Wir bleiben am Thema dran und werden in den nächsten Monaten ein Folgetreffen organisieren, das auch für neue Interessierte offen ist.
Jolanta Paliszewska: Design for all – Bedürfnisse mitdenken mit dem Oktokit
Design for all, also Gestaltung für alle: Das ist der Gegenentwurf zur gängigen Praxis, Produkte oder Dienstleistungen erst im Nachhinein auf Barrierefreiheit zu trimmen. In ihrem Workshop stellte Designerin und Accessibility-Expertin Jolanta Paliszewska die wichtigsten Aspekte des Design-Prinzips und einige Grundannahmen zum Thema Zugänglichkeit vor. Was wir mitgenommen haben:
- Der Begriff „Barrierefreiheit“ bezieht sich auf die Beseitigung von Hindernissen für Menschen mit Behinderung. Paliszewska bevorzugt den Begriff „Zugänglichkeit“ (engl. „accessibility“), da er sich lösungsorientiert auf die Bedürfnisse aller Menschen bezieht.
- Die Zugänglichkeit von Produkten, Angeboten oder öffentlicher Infrastruktur kann situativ, temporär oder permanent eingeschränkt sein. Von temporären oder situativen Einschränkungen sind alle Menschen von Zeit zu Zeit betroffen. Ein Beispiel: Angebote, die sich auf eine verminderte Hörfähigkeit beziehen, helfen nicht nur gehörlosen Menschen, sondern auch Menschen mit einer Mittelohrentzündung (temporär) oder einer lauten Baustelle vor dem Haus (situativ)
- Hier setzt das “Design for all” mit dem Motto “Necessary for some, good for everybody” an: Jede Maßnahme, die ein Produkt oder eine Dienstleistung zugänglicher für Menschen mit Behinderungen macht, bringt demnach automatisch auch Vorteile für viele weitere Menschen mit sich.
Um ein Kulturangebot nach diesen Prinzipien zu planen, ist die Arbeit mit Expert:innen mit Behinderungen und weiteren Fokusgruppen die erste Wahl. Kleineren Institutionen fehlt dafür oft das Geld – davon abgesehen, dass das Angebot für Barrierefreiheits-Audits und ähnliche Expert:innen-Dienstleistungen ohnehin lückenhaft ist. Was also, wenn dieser Plan A nicht funktioniert?
Das Oktokit
Mit dem Oktokit hat Jolanta Paliszewska ein Tool entwickelt, das helfen kann, eine diverse Palette an Bedürfnissen in die Entwicklung eines Angebots einzubeziehen – auch ohne Expert:innen in eigener Sache.
Der Name bezieht sich auf acht Bedürfnisebenen von Zugänglichkeit, die die Designerin identifiziert hat: Hören, Sehen, Verstehen, Kommunikation, Fortbewegen, Ängste, Stressoren und Partizipation. Die Arbeit mit dem Oktokit teilt sich auf in eine Antizipationsphase, bei der auf ein Angebot bezogene Bedürfnisse und Hürden ermittelt werden und eine Phase der Lösungssuche. Im Workshop durchleuchteten die Teilnehmer:innen Notrufsäulen, Videocalls, Online-Programmhefte und Museumsangebote auf ihre Zugänglichkeit. Die Ergebnisse waren dabei oft ernüchternd – ein Zeichen dafür, dass der bedürfnisorientierte Ansatz des Oktokits viele bisher unbemerkte Defizite aufdecken kann.
Das Oktokit befindet sich noch in einer Erprobungsphase und ist noch nicht öffentlich verfügbar. Wer Interesse daran hat, kann sich aber bei Jolanta Paliszewska melden und wird dann über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten.
Künstlerische Zukunftsforschung: Nabi Nara (SOMA Art), Dagmar Schürrer und Marlene Bart sowie Tina Lorenz (Hertzlab | ZKM)
Wie kann (digitale) Kunst zu einem besseren Technikverständnis und einer nachhaltigeren, gemeinschaftlicheren Welt beitragen? Welche Erzählungen von Gemeinschaftlichkeit lassen sich beispielsweise mit Augmented- und Virtual Reality umsetzen? Können diese Technologien einer (Stadt-)Gesellschaft helfen, fantasievoller über die eigene Zukunft nachzudenken?
Künstlerin Dagmar Schürrer präsentierte im ATZE Musiktheater ihr Projekt „Symbiotic Synchrony“, das als Teil der Ausstellungsreihe „Becoming Future“ bei SOMA Art Berlin zu sehen war. Das Projekt beschäftigt sich aus poetischer Sichtweise mit symbiotischer Gemeinschaftlichkeit. Die Grundannahme: Von der Natur lernen muss nicht heißen, das darwinistische Prinzip zu übernehmen. Es kann auch bedeuten, sich vom Wesen der Kooperation inspirieren zu lassen, das sich in der Natur in symbiotischen Beziehungen zeigt. In der interaktiven Mixed-Reality-Installation können Teilnehmer:innen in virtuelle Objekte hineingreifen und sie miteinander zu neuen symbiotischen Objekten verbinden. Hier findet ihr einige Einblick ins Projekt: SYMBIOTIC SYNCHRONY – Solo exhibition by Dagmar Schürrer
Künstlerin Marlene Bart beschäftigt sich mit der Geschichte visueller Ordnungssysteme in der Naturwissenschaft. Bei der Konferenz stellte sie ihre interaktive AR-Anwendung „Patterns of Pathology“ vor, die ebenfalls Teil der Ausstellungsreihe „Becoming Future“ war und mit den medizinischen Zuschreibungen „gesund“ und „krank“ spielt. Bei YouTube gibt es mehrere kurze Einblicke: Marlene Bart – Patterns of Pathology & Machined Minds: Nature Unscripted
Im Anschluss an die SOMA Art-Session stellte Tina Lorenz (ex-Staatstheater Augsburg) ihren neuen Schaffensort vor: Das Hertzlab am Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe. Auch dort wird mit künstlerischen Mitteln an der Zukunft geforscht – in sechs Projektbereichen, die Fragen zu Nachhaltigkeit, zwischenmenschlicher Kommunikation, Künstlicher Intelligenz oder alternativen Zukunftsvorstellungen erörtern und miteinander verknüpfen.
Mehr zu Marlene Bart und den Projekten des Hertzlab weiter unten im Abschnitt Take-Aways.
NETZWERT – Die Digitalisierung der Berliner Kulturinstitutionen gemeinsam denken
Kultureinrichtungen, die innovativ und von innen digitale Veränderungen anstoßen: Das ist das Ziel der seit 2021 durch die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftliche Zusammenhalt geförderten Resilienz-Dispatcher:innen – Digital-Manager:innen, die an über 60 Berliner Museen, Theatern, Gedenkstätten und weiteren Institutionen tätig sind.
Ihre fachlichen Hintergründe sind dabei so vielseitig wie ihre auf die Bedarfe der Institution zugeschnittenen Rollen. Das ursprünglich bis 2025 geplante Programm wird aufgrund von Haushaltskürzungen voraussichtlich zum Ende des Jahres 2024 beendet. Die befristeten Stellen laufen dann aus.
Bei der Konferenz bespielten die Dispatcher:innen, deren Vernetzung kulturBdigital seit Beginn des Programms 2021 unterstützt und begleitet, einen eigenen Programmbereich. In kurzen Impulsvorträgen und offenen Gesprächsrunden teilten sie ihre „Lessons Learned“ und luden zum Austausch ein. Der Raum dafür hätte ruhig größer sein dürfen, denn die „Resilienz-Ecke“ platzte aus allen Nähten.
In Gesprächsrunden stellten die Dispatcher:innen neben den Einzelthemen besonders heraus, welchen großen Wert ihre Vernetzung und die gemeinsame Klärung von Fragen für die tagtägliche Arbeit hat. Ein paar der wichtigsten Erkenntnisse aus den Vorträgen haben wir hier für euch notiert. Am Ende der Vortragsnotizen findet ihr jeweils auch einen Link zu den Bildschirm-Präsentationen.
Holger Kral (Staatsoper Berlin): „Digitalisierung ist Organisationsentwicklung“
Holger Kral berichtete über die Vorteile einer systemischen Perspektive auf das große Projekt, eine Organisation zu digitalisieren. Was wir mitgenommen haben:
- Wie wurde alles so, wie es ist? Jeder kompliziert erscheinende Workflow ist das Ergebnis historisch gewachsener Aushandlungen über Kompetenzen und Bedürfnisse. Bevor man Arbeitsprozessen eine neue digitale Form gibt, lohnt es sich daher, ihre Entstehungsgeschichte nachzuvollziehen. Warum sind Abläufe so, wie sie sind? Welche Bedürfnisse stecken dahinter?
- Wissenstransfer. Wer wirklich offen auf Kolleg:innen zugeht, bekommt offene Antworten. Die Bereitschaft zu erzählen und Wissen weiterzugeben hat Holger Kral an der Staatsoper als sehr groß wahrgenommen.
- Produktives Vergessen. Wenn man Arbeitsabläufe verbessern möchte, sollte man zuerst verstehen, wie sie entstanden sind. Danach muss man bewusst die alten Methoden beiseitelegen und neue Wege ausprobieren. Nur so können neue Prozesse entstehen. Das Wissen um die Bedürfnisse, die durch die alten Prozesse befriedigt wurden, läuft dabei im Hintergrund mit.
Zur Präsentation
Yvonne Zießler: „Partizipation stärken und Innovationen schaffen: Digitale Lösungen für das interne Wissensmanagement“
Yvonne Zießler führte das Team der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen von ersten organisationsübergreifenden Meetings zu Digitalisierung hin zu festen AGs und regelmäßigen Info-Veranstaltungen. Was wir mitgenommen haben:
- Technische Neuerungen betreffen selten nur eine Abteilung. Entsprechend ist das technische Wissen, das in einer Abteilung liegt, oft auch für andere Abteilungen interessant. Austausch ist das A und O.
- Offene Formate können den Stein ins Rollen bringen. Es braucht nicht zwingend ausgefeilte Workshopkonzepte oder Begleitung von außen, um eine Institution zum Thema Digitalisierung zusammenzubringen. An der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen genügte ein offenes Format, bei dem abteilungsübergreifend über Schwierigkeiten, Möglichkeiten und Risiken beim Thema Digitalisierung gesprochen wurde, um eine produktive Bedarfsanalyse in Gang zu setzen.
- Feste Verantwortlichkeiten und regelmäßige Treffen helfen dabei, am Ball zu bleiben. In der Gedenkstätte Hohenschönhausen wurden abteilungsübergreifende AGs zu verschiedenen Digitalthemen gegründet, die sich alle vier bis sechs Wochen treffen: Beispielsweise zu internem und externem Wissensmanagement oder zu KI & ChatGPT.
Zur Präsentation
Dagmar Pfandzelter (Deutsche Oper Berlin): „Innovation und Digital Literacy“
Dagmar Pfandzelter berichtete über die erfolgreiche Einführung einer App mit Social-Intranet-Funktion an der Deutschen Oper Berlin. Was wir mitgenommen haben:
- Mit dem arbeiten, was bereits vorhanden ist. Kulturinstitutionen verfügen oft über veraltete Technik (und wenig Budget für Neuanschaffungen). Ihre Belegschaft weist oft sehr unterschiedliche digitale Kompetenzen auf – zumindest bezogen auf die Büro-Software. Was alle vereint? Viel private Messenger-Kommunikation! Ein Tool mit Messenger-ähnlichen Funktionen hatte daher gute Chancen, angenommen zu werden.
- Private Geräte und Fähigkeiten für Berufliches nutzen – auf freiwilliger Basis. Nicht alle Mitglieder einer Organisation haben Interesse an mehr digitalen Anwendungen in ihrem Berufsalltag. Weil ohnehin kein Geld für Diensthandys für die gesamte Belegschaft da war, wurde die Social-Intranet-App auf freiwilliger Basis eingeführt – auf den Privathandys der Mitarbeitenden. Mit großem Erfolg: Vier Monate nach Einführung nutzten bereits 76% der Beschäftigten die App, die sich in der Freizeit stummschalten lässt.
- Mehr Kommunikation, weniger Hierarchien, besserer Informationsfluss. Durch die Einführung der App hatten die Beschäftigten messbar mehr Kontakt, tauschten Ideen unabhängig von Hierarchieebenen aus und erhielten gleichzeitigen Zugriff auf wichtige Neuerungen.
Zur Präsentation
Der Nachmittag – Perspektiven auf nachhaltigen und kritischen Technikeinsatz
Dr. Moritz Maier – SHIFT: Inklusive Digitalisierung kulturellen Erbes und der verantwortungsvolle Umgang mit KI
Das EU-Projekt SHIFT entwickelt KI-basierte Lösungen, um Kulturerbe für möglichst viele Menschen zugänglich zu machen: Durch automatisierte Objektbeschreibungen oder Virtual-Reality-Anwendungen, die Objekte mit zusätzlichen, beispielsweise haptischen Sinneseindrücken anreichern oder Details beleuchten, die nicht sofort ins Auge stechen. Nach der Absage eines anderen Beitrags sprang Dr. Moritz Maier bei der kulturBdigital-Konferenz kurzfristig ein – und erklärte, welche ethischen Fragen technische Lösungen für Inklusion aufwerfen können.
Zum gesamten Vortrag:
Katharina von Hagenow & Tereza Havlíková: COPY PASTE WASTE – Was kann ein Kunstprojekt zu digitaler Nachhaltigkeit beitragen?
Jede Datenübertragung verursacht CO2-Ausstöße. Was bedeutet das für die Nachhaltigkeitsbestrebungen eines auch online bild- und videogewaltigen Kulturbereichs? Das Projekt COPY PASTE WASTE der Online-Galerie Prater Digital nimmt diese Frage aus künstlerischer und wissenschaftlicher Perspektive in den Blick. Auf der kulturBdigital-Konferenz stellten die freien Kuratorinnen Katharina von Hagenow & Tereza Havlíková das Projekt vor.
Zum gesamten Vortrag:
allapopp: Can I Trust My AI Body?
Was bedeutet es für unser Verhältnis zu unseren Körpern, wenn wir unser Aussehen und unsere Stimme mit KI-Tools in Windeseile digital replizieren können? Warum wirken solche KI-generierten Avatare meist glatter und normschöner als man selbst? Könnte die Einbeziehung marginalisierter Positionen helfen, eine weniger toxische, menschlichere KI zu bauen? Medien- und Performance-Künstler:in allapopp arbeitet seit Jahren zu Techniken der Selbstdigitalisierung. Bei der Konferenz gab allapopp Einblicke in Arbeitsweise und Projekte – mit vielen nerdigen Verweisen auf kritische Forschungsbeiträge der vergangenen Jahre.
Mehr zum Vortrag und zu Querverbindungen mit anderen Konferenzinhalten lest ihr im Abschnitt Take-Aways.
Zum gesamten Vortrag (auf Englisch):
KI-Rat der Künste für Berlin: Wie kann er aussehen und was kann er leisten?
Schon lange vor dem derzeitigen KI-Hype arbeiteten Künstler:innen mit Technologien der Automatisierung und beleuchteten die Frage, was menschliche Intelligenz mit der „Intelligenz“ von Maschinen verbindet und was sie voneinander unterscheidet. Auch heute werfen die Künste viele kritisch-reflektierende Blicke auf derzeitige Entwicklungen beim Thema KI – zum Beispiel auf die Fortschreibung gesellschaftlicher Ausschlüsse in den Trainingsdaten oder die hohen Umweltkosten, die mit der Technologie verbunden sind.
Außerhalb der Kunstwelt werden diese Stimmen bislang dennoch wenig gehört – von einer Einbeziehung der Künste in technologische Entwicklungen im öffentlichen Sektor oder bei Fördermittelstrukturen und -vergaben ganz zu schweigen.
Welche Perspektive hat die Senatsverwaltung auf das Verhältnis von Künsten und Künstlicher Intelligenz? Bei der kulturBdigital-Konferenz sprach der Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt Joe Chialo zu Kunst und KI, zu aktuellen Fragen in der Digitalisierung des Kulturbereichs sowie zur Haushaltslage.
Hier könnt ihr seinen Impuls nachschauen:
Auf der KI-Konferenz der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt im Mai 2024 brachte Clara Herrmann (Leitung JUNGE AKADEMIE, Akademie der Künste) die Idee eines KI-Rats der Künste ins Spiel, der für mehr Mitbestimmung der Künste beim Thema KI eintreten könnte.
Wie könnte so ein KI-Rat der Künste für Berlin aussehen und was könnte er leisten? Auf der kulturBdigital-Konferenz hatten Künstler:innen und weitere Interessierte die Möglichkeit, diesen Fragen im Rahmen eines Workshops nachzugehen.
Im Anschluss an den Impuls von Senator Joe Chialo präsentierten die Workshop-Leiter:innen Clara Herrmann und Maithu Bùi die Ergebnisse – und diskutierten dann mit dem Senator, wie ein solcher Rat umgesetzt werden könnte. Die Moderation übernahm Gesa Trojan (Technologiestiftung Berlin).
Hier geht es zur gesamten Diskussion:
Der Abschluss: Kultur, digitale Zivilgesellschaft und kritische Öffentlichkeit
Was kann die (digitale) Kultur tun, um die Demokratie und ihre Prozesse zu stärken, Raum für echten Diskurs zu schaffen und sich gleichzeitig vor Angriffen und Vereinnahmungsversuchen durch antidemokratische Kräfte zu schützen? Auf euren vielfachen Wunsch hin brachte der Schlussteil der Konferenz Akteur:innen auf die Bühne, die sich für einen kritischen, selbstermächtigten Technikumgang, Offenheit und Diversität einsetzen und dabei digitale und analoge Zivilgesellschaft zusammendenken.
Den Anfang machte Stephanie Hankey, Co-Gründerin von Tactical Tech. Seit mehr als 20 Jahren wirft Tactical Tech künstlerisch-kritische Blicke auf digitale Technologien und ihre Auswirkungen auf unseren Alltag. In interaktiven und hybriden Performances und Installationen schaffen die Aktivist:innen Gelegenheiten, sich kritisch mit Gesichtserkennung, Künstlicher Intelligenz oder Aufmerksamkeitsökonomie auseinanderzusetzen. Bei ihrem Vortrag stellte Hankey einige Projekte vor und gab Einblicke in die Arbeitsweise.
Zum Vortrag (auf Englisch):
Wie kann man gegensteuern, wenn demokratiefeindliche Akteur:innen Online-Communities kapern, um menschenfeindliche Inhalte und Denkweisen zu streuen? Das Projekt „Good Gaming – Well Played Democracy“ der Amadeu-Antonio-Stiftung arbeitet zu rechtsextremen Aktivitäten im Gaming und versucht ihnen mit Weiterbildungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen sowie mit „digitaler Streetwork“ das Wasser abzugraben. Sozialwissenschaftler Mick Prinz leitet das Projekt. In seinem Vortrag erklärte der leidenschaftliche Gamer, warum viele Computerspiele politisch sind, auch wenn sie nicht so wirken, und wie engagierte Einzelpersonen und Initiativen im Gaming Raum für Gleichberechtigung und Diversität schaffen.
Zum Vortrag:
In Bibliotheken treffen Menschen unabhängig von Beruf, Alter, Geschlecht oder sozialer Herkunft aufeinander. Könnten sie die Basis für eine vernetzte Stadtgesellschaft sein, die in analogen und digitalen Räumen zusammenkommt – unabhängig von den toxischen Algorithmen und Filterblasen kommerzieller sozialer Netzwerke? Zum Abschluss des Impulsteils skizzierte Dr. Boryano Rickum, Leiter der Stadtbibliothek Tempelhof-Schöneberg, die Idee von Bibliotheken als digitale Dritte Orte.
Zum Vortrag:
Hier geht es zur anschließenden Podiumsdiskussion.
Take-Aways und Fazit
Mit vielen großen Themen auf dem Programm sind wir in diese Konferenz gegangen. Wir wollten die Fortschrittserzählungen der KI-Industrie kritisch beleuchten und überlegen, wie wir dem Open-Source-Gedanken zu mehr Wirksamkeit verhelfen können. Gemeinsam mit euch wollten wir neue Pfade zur digitalen Selbstermächtigung erkunden – und zu einem nachhaltigen digitalen Kulturbetrieb, der sich auch gegen Angriffe demokratiefeindlicher Akteur:innen zur Wehr zu setzen weiß. Unsere Ergebnisdokumentation zum Weiterdenken:
Die digitale Zukunft als Gemeinschaftsprojekt
Warum erscheinen uns bestimmte Vorstellungen über die Zukunft wahrscheinlicher, sind leichter vorstellbar als andere? Wenzel Mehnert betreibt Zukunftsforschung – als Imaginationsforschung, wie er in seiner Keynote schnell herausstellte. Was uns für die Zukunft als wahrscheinlich erscheint, verrät seines Erachtens mehr über unseren Blick auf die Gegenwart als über die Zukunft selbst. Es hat aber großen Einfluss darauf, welche der möglichen Zukünfte tatsächlich eintritt.
Unsere Vorstellungen von der Zukunft wiederum wirken zurück auf unseren Blick aufs Jetzt. Das wissen ihm zufolge auch große Technologiekonzerne, beispielsweise aus dem KI-Sektor. Um von den hohen Sozial- und Umweltkosten abzulenken, die ihre Produkte in der Gegenwart verursachen, zeichnen sie gerne rosige Zukunftsvisionen, in denen Automatisierung zu gesteigerter gesellschaftlicher Teilhabe und verringerter Arbeitsbelastung führt.
Glaubt man Wenzel Mehnert, ist Zukunft immer ein Gemeinschaftsprojekt. Das heißt, sie wird getragen und ermöglicht von den gesellschaftlich akzeptierten, verbreiteten Vorstellungen, die wir über sie haben – und die ihren Ausgangspunkt oft in Big-Tech-Narrativen haben. Doch Zukunft könnte auch ein richtiges, an gemeinsamen Werten orientiertes Gemeinschaftsprojekt sein. Wenn wir es schaffen, den diskursiven Raum zurückzuerobern, in dem über die Zukunft von Technologie in unserer Gesellschaft verhandelt wird. Das gelingt laut Mehnert am besten, wenn wir gerade jene positiven Zukunftsvorstellungen kultivieren, die uns angesichts der Macht großer Konzerne abwegig, größenwahnsinnig oder gar lächerlich erscheinen.
Was wäre, wenn wir uns zum Beispiel entschließen, an digitale Gemeinschaftlichkeit zu glauben – und zwar so richtig? Wenn wir tief überzeugt wären, dass ein Projekt besser funktioniert, je gemeinschaftlicher es gedacht ist – allen vermeintlichen Gegenbeweisen aus Silicon Valley zum Trotz?
Das könnte zum Beispiel bedeuten, die Zugänglichkeit der eigenen Angebote nicht an große Technologiekonzerne und ihre oft halbgaren Lösungen auszulagern – auch wenn diese ihren Produkten nur zu gerne den Anschein von Gemeinnützigkeit verleihen. Im ATZE Musiktheater ist sehr deutlich geworden, dass es viele Wege gibt, um die Bedürfnisse eines vielfältigen Publikums von Anfang an einzubeziehen. Sie reichen vom niedrigschwelligen Einstieg mit Tools zur Bedürfnisanalyse (Jolanta Paliszewska) über die Arbeit mit Expert:innen-Gremien (Andreas Krüger und Marie Lampe) bis hin zu internationalen Forschungskooperationen (Dr. Moritz Maier). Natürlich ist beim Thema Zugänglichkeit noch viel Luft nach oben. Mit einem klaren Blick dafür, welche Lösungsansätze erstrebenswert sind und den Werten der Kulturszene entsprechen, könnte da aber doch etwas gehen. Und mit viel Vernetzung – natürlich!
Es ist begrüßenswert, dass viele Softwareprojekte aus dem Kulturbereich inzwischen auf Open-Source-Basis entwickelt werden. Vor der Planung einer neuen Anwendung würde es sich Nicolas Zimmer zufolge aber lohnen, häufiger über den Tellerrand der eigenen partikularen Probleme hinauszuschauen.
Laut Zimmer gab es nur wenige auf Nachnutzung angelegte Projekte in der Förderrichtlinie „Digitale Entwicklung im Kulturbereich“ der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, die sich mit szeneübergreifenden Fragestellungen beschäftigten. Zu diesen gehörten zum Beispiel Projekte zu anonymisierten Juryverfahren bei zeitgenössischer Kunst, zur digitalen Fundus- und Equipmentverwaltung sowie zum Umgang mit politisch sensibler Sprache in Veranstaltungstexten. Genau diese Projekte aber, die sich an größere, etwas unwahrscheinlicher zu lösende Problemlagen herangetraut haben, teilen eine Gemeinsamkeit: Sie werden bis heute gepflegt und von verschiedenen Akteur:innen genutzt.
Künstlerische Zukunftsforschung
Wie kann Kunst uns helfen, selbstbestimmter mit der Art und Weise umzugehen, wie Technologie in unserem Leben stattfindet? Und wie kann Kunst – mithilfe von Technik – Visionen für ein gerechteres, ökologisch nachhaltigeres Übermorgen entwerfen, an dem möglichst viele Menschen teilhaben können?
Tina Lorenz, die lange das Digitaltheater am Staatstheater Augsburg leitete, repräsentierte dieses Jahr das Hertzlab bei der Konferenz – die Abteilung für künstlerisch-technologische Forschung am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe. Unter anderem berichtete sie von einem Projekt, das zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Vertrauen einlud, das wir KI-generierten Texten entgegenbringen. Im Rahmen des Projekts wurde eine Ausstellung mit einem Audioguide flankiert. Was die Besucher:innen der Ausstellung nicht wussten: Die Grundlage des Audioguides bestand nicht in den Ergebnissen von Forschung und Recherche, sondern in KI-produzierten Texten, die munter zwischen Fakten und frei Erfundenem oszillieren.
Auch Tactical Tech konfrontieren ihre Besucher:innen gerne mit den Auswirkungen digitaler Technologien auf unsere Selbst- und Weltwahrnehmung. Beispielsweise mit dem Wert, den wir Likes und Follower:innen auf kommerziellen sozialen Netzwerken zuschreiben. In ihrem Vortrag stellte Stephanie Hankey unter anderem die Installation „Quick Fix“ vor, bei der man Likes und Follower:innen fürs Instagram-Profil per Münzeinwurf in einen Automaten kaufen kann. Außerdem berichtete sie am Beispiel des Datenschutz- und Aufklärungsexperiments „The Glass Door“ über die Strategie, Skalierbarkeit als essentielle Eigenschaft der eignen Projekte zu verankern. Dieses und weitere Tactical Tech-Projekte sind darauf ausgelegt, an verschiedenen Orten auf der Welt in großem oder kleinem Maßstab umgesetzt zu werden – je nach Ressourcen der dortigen Akteur:innen.
Die Konferenzbeiträge der Künstler:innen allapopp und Marlene Bart nahmen kritisch Bezug auf die Durchdringung sensibler Lebensbereiche durch Technologie. allapopp arbeitet seit vielen Jahren mit Technologien der Selbstdigitalisierung und fragte in ihrem Konferenzvortrag: „Can I trust my AI body?“. In ihren hybriden Installationen untersucht sie, wie KI-Tools vorgehen, wenn sie auf der Basis von Fotos oder Videos digitale Avatare von Menschen erstellen. Wie sie bei der Konferenz zeigen konnte, haben kommerzielle KI-Tools die Tendenz, weiblich gelesene Personen bei der Avatar-Erstellung mit Attributen auszustatten, die im Sinne gängiger Schönheitsideale als anziehend oder verführerisch gelesen werden können. allapopp konstatierte hierzu treffend: „AI is a homogenizing tool.“
Bei der Konferenz stellte Marlene Bart ihre interaktive AR-Anwendung „Patterns of Pathology“ vor. Für die Anwendung arbeitete Bart mit EEG-Datensätzen – also aufgezeichneten Messungen der Gehirnströme – von Frauen, die vor Jahrzehnten als psychisch krank diagnostiziert wurden.“
Die Anwendung spielt mit den medizinischen Zuschreibungen „gesund“ und „krank“, ihren technischen Darstellungen und den Veränderungen, denen sie im Laufe jahrzehntelanger Forschung unterliegen. Sie zeigt, wie menschengemacht und zeitgeistgebunden vermeintlich universelle und neutrale Ordnungssysteme sind – und wie verführerisch es ist, ihnen zu vertrauen. Ein wichtiger Impuls in Zeiten, in denen auch im Medizinsektor viel Hoffnung in die Mustererkennungsfähigkeiten von KI-Systemen gesetzt wird.
Kunst zeigt hier: Das Digitale ist kein neutraler Ort, Digitalisierung kein neutraler Prozess. Ohne ein kritisches Korrektiv wie die Kunst hat Technologie die Tendenz, gesellschaftliche Ausschlüsse, Macht- und Normierungsstrukturen fortzuschreiben. Wenn wir das Digitale nicht selbst gestalten, gestaltet das Digitale uns – und nimmt Einfluss auf unser Denken.
Digitale Öffentlichkeit
Wie könnte ein gemeinnütziger, möglichst herrschaftsfreier Gegenentwurf zu den kommerziellen Plattformen aussehen, auf denen sich heute der Großteil der digitalen Öffentlichkeit – auch im Kultursektor – abspielt? Und wie können Kulturinstitutionen in ihren Online-Communities Raum für echte Debatten schaffen, ohne sich der Gefahr der Vereinnahmung durch antidemokratische Kräfte auszusetzen?
Im Abschlussblock der Konferenz war Gelegenheit, diese Fragen näher zu erörtern, die Nicolas Zimmer schon zu Anfang des Tages in seiner Keynote aufgeworfen hatte.
Mick Prinz von der Amadeu-Antonio-Stiftung berichtete von politisch engagierten Gaming-Influencer:innen, die Awareness-Teams anstellen, um ihre Live-Streams frei von Gewaltverherrlichung und Diskriminierung zu halten und bei Auseinandersetzungen einschreiten können. Eine niedrigschwellige und dennoch oft wirksame Strategie sah er außerdem in Guidelines, die von User:innen bestätigt werden müssen, bevor sie einen Kanal betreten. Ein verbreiteter Trick, um zu prüfen, ob die Guidelines auch gelesen wurden, besteht in der Gaming-Community in kleinen Tests, die sich an die Zustimmung zu den Guidelines anschließen. Diese Maßnahme habe einen sichtbaren Effekt auf den Umgangston in der Community.
Dr. Boryano Rickum sprach bezogen auf die Übernahme von Twitter/X durch Elon Musk in Anlehnung an Jürgen Habermas von einer Refeudalisierung der Öffentlichkeit. Dabei übernähmen einzelne Konzerne und Privatpersonen die Kontrolle über die Art und Weise, wie wir öffentlich miteinander in Kontakt treten. Auf Plattformen wie X/Twitter, die nur scheinbar dem freien Austausch dienen, gehe es in Wahrheit immer nur um eine Steigerung der Verweildauer und der Interaktionen mit Beiträgen. Statt dem besten Argument zähle hier der krasseste emotionale Trigger – denn wer emotionalisiert ist, interagiert stärker mit den Inhalten.
Gemeinnützige digitale Plattformen hingegen müssten das beste Argument bevorzugen und dürften nicht nach affektiven Prinzipien funktionieren. Außerdem sollten sie im besten Fall die Tendenz haben, Menschen unabhängig von Alter, sozialer Herkunft oder Geschlecht zusammenzubringen – gegebenenfalls sogar mit der Möglichkeit, sich in physischen Räumen begegnen zu können, wenn der digitale Raum nicht mehr ausreicht (oder andersherum).
Ganz im Sinne von Wenzel Mehnerts Forderung, Hoffnung in zunächst unwahrscheinlich erscheinende Zukunftsvisionen zu setzen, plant der Verbund der Öffentlichen Bibliotheken Berlins (VÖBB) derzeit ein solches Angebot. Es soll die physische mit der digitalen Sphäre verbinden und Bibliotheken zum Ausgangspunkt für partizipative Stadtentwicklung machen. Weil sie so schön ist, hier ein Teil von Boryano Rickums bei der Konferenz vorgetragenen Vision im Wortlaut:
„Stellt euch vor, es kommen Menschen zu einer Abendlesung und Diskussion mit Fachleuten in die Bibliothek zum Thema Verkehr in der Großstadt. Im Laufe des Abends entwickelt sich eine intensive Diskussion, die aber jäh beendet wird, weil die Bibliothek schließt. Dabei gibt es noch großen Diskussionsbedarf unter den Teilnehmer:innen, die sich an dem Abend überhaupt erst kennengelernt haben. Aber die Bibliothek macht es möglich: Eigens zu diesem Zweck wurde vor Beginn der Veranstaltung ein QR-Code an die Wand gehängt, der die Diskutant:innen unmittelbar und ohne Umwege in einen digitalen Raum leitet, der ausschließlich für sie und ausschließlich für die weitere Diskussion zu exakt dem Abendthema eingerichtet wurde.
Und dann, so stelle ich mir vor, bildet sich in den folgenden Tagen ein harter Kern von Menschen in diesem Raum, die von diesem Thema noch immer bewegt werden, und es entsteht der Wunsch, sich wieder physisch zu treffen. An diesem Punkt nutzen sie die Möglichkeit eines Terminplanungs- sowie Raumbuchungstools, das sie in ihrem digitalen Raum vorfinden, um sich bald wieder in einer Bibliothek zu treffen, in einem eigens für sie reservierten physischen Raum. Und einige von ihnen bringen vielleicht noch Leute aus der Nachbarschaft mit, und in dieser Gruppe entsteht bald die Frage, wie sich der öffentliche Verkehr in ihren Kiezen verbessern lässt. Diese Frage nehmen sie nach ihrem Treffen mit in ihren digitalen Raum. Einzige Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Raumes: ein Bibliotheksausweis.“
Wir sind sehr gespannt auf das Projekt des VÖBB und werden euch auf dem Laufenden halten, sobald wir mehr hören.
Text: Thorsten Baulig