Welches Potenzial haben Augmented und Virtual Reality für Kunst und Kultur – vor und hinter den Kulissen? Für eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung sind wir dieser Frage gemeinsam mit Theaterforscherin Franziska Ritter nachgegangen.
Für die Studie „Mehrwerte durch immersive Technologien“ der Konrad-Adenauer-Stiftung durfte unser Redakteur Thorsten Baulig gemeinsam mit Franziska Ritter einen Blick auf erweiterte Realitäten in Tanz und Theater, in Bildender Kunst und Klassischer Musik, in Bibliotheken und der freien Szene werfen. Vielen Dank an Tobias Wangermann und die Konrad-Adenauer-Stiftung – und an Franziska Ritter für die gute Zusammenarbeit.
Der folgende Beitrag ist am 22.5.2024 unter der Lizenz „Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international”, CC BY-SA 4.0 bei der Konrad-Adenauer-Stiftung erschienen. Wir haben ihn um ein Inhaltsverzeichnis ergänzt, die Nennung weiblicher und männlicher Formen durch mit Doppelpunkt gegenderte Formen ersetzt sowie Fußnoten als direkte Links oder Infokästen gesetzt.
Unendliche Weiten: Virtuelle Räume in Kunst und Kultur
Thorsten Baulig (Technologiestiftung Berlin, kulturBdigital) und Franziska Ritter (TU Berlin Bühnenbild Szenischer Raum, digital.DTHG/Deutsche Theatertechnische Gesellschaft)
Wenn Technologien neue Möglichkeiten für Gestaltung, Vermittlung und Wahrnehmung bieten, dauert es in der Regel nicht lange, bis neugierige Kunst- und Kulturschaffende mit ihr experimentieren. Kein Wunder also, dass Künstler:innen seit vielen Jahren die Mehrwerte ausloten, die Augmented- und Virtual Reality für die künstlerische Praxis, die Kulturvermittlung und die Arbeit hinter den Kulissen bieten.
Das Besondere am künstlerischen Technikzugang: Technik wird in den seltensten Fällen für die Anwendung in den Künsten entwickelt. Vielmehr eignen sich Kulturakteur:innen die Technik für ihre Zwecke an und gehen in einen spielerischen, kreativen, zeitweise kritischen Dialog mit ihren Potentialen und Beschränkungen. Von der künstlerischen Arbeit mit Technik profitiert so auch die Technik selbst – in Form von neuen Einsatzgebieten und reflektierten Funktionsweisen.
Aufbruchstimmung in der gesamten Kulturbranche
Die Vielfalt der Anwendungsformen zeigt sich in allen Disziplinen. Ob Tanz, Musik, Theater, Bildende Kunst, ob in der freien Szene, in festen Institutionen oder in der Ausbildung – es herrscht Aufbruchstimmung! Werfen wir einen Blick in die deutsche Kulturlandschaft:
Das gerade beendete Projekt museum4punkt0 lieferte mit vielen Verbundpartnern wertvolle und übertragbare Erkenntnisse für neue Arten des Lernens, Erlebens und Partizipierens für den Museumsbereich. Im Rahmen des Projekts macht AR-Technologie z. B. auch solche Exponate im Wortsinn begreifbar, die aus konservatorischen Gründen nicht berührt werden dürfen: Die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar entwickelte eine App, mit der Besucher:innen historische Bücher virtuell aus dem Regal nehmen und durchstöbern können.
Virtuelle 360-Grad-Rundgänge gehören mittlerweile zum Standardrepertoire großer Museen und bilden sowohl für die Institutionen als auch für die Nutzer:innen einen einfachen Zugang zur Welt der Digitalräume – sofern ein entsprechendes Endgerät und Internetzugang vorhanden sind. Bei freiem Eintritt kann man so z. B. Goethes Wohnhaus jederzeit virtuell einen Besuch abstatten oder das nicht mehr existierende Große Schauspielhaus Berlin bei einer Zeitreise in die Vergangenheit auf narrativ-poetische Weise erleben.
Auch auf dem Feld der XR-Kunst gibt es Künstler:innen, die ihre Werke digital erfahrbar machen oder sogar rein virtuell erschaffen. Medienkünstlerinnen wie z. B. Lauren Moffat entführen ihr Publikum in ungeahnte, höchst raffinierte digitale Phantasiewelten – sei es mit digitalen Überlagerungen oder mit rein virtuellen Skulpturen und räumlichen Installationen. So weit, dass es für digitale Kunst keinen physischen Ort mehr braucht und digitale Museumsneubauten errichtet werden – wie das Museum of Other Realities (MOR), wo virtuelle Kunst in virtueller Realität gemeinsam erlebt werden kann.
Um klassische Musik einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, arbeitet auch das Konzerthaus Berlin seit Jahren experimentierfreudig mit neuen Technologien und Zugängen zur Musik. Mit einer digitalen Ausstellung lockt es jährlich mehrere tausend zusätzliche Besucher:innen ins Foyer, um sie mit spielerischen AR- und VR-Anwendungen für Klassische Musik und die Architektur des Hauses zu begeistern. In der interaktiven VR-Komposition „Umwelten“, die mittlerweile auch als AR-Version zugänglich ist, kann das Publikum digital Objekte zum Klingen bringen und so miteinander kombinieren, dass eine individuelle eigene Komposition entsteht, die aufgenommen und geteilt werden kann.
Am Staatstheater Augsburg – seit 2020 das erste Theater mit eigener digitaler Sparte – wird der digitale Raum von vornherein mitgedacht: In der Oper „Orfeo ed Euridice“ taucht das Publikum im zweiten Akt mit 500 VR-Brillen virtuell in die Unterwelt ab und erlebt selbst eine rasante Höllenfahrt in den Hades. Wer zuhause eine 360-Grad-Theater-Erfahrung machen möchte, kann sich sogar die VR-Brillen liefern lassen und das gewünschte Stück so erfahren, als säße er/sie im Zuschauerraum. Das erleichtert auch Menschen mit Mobilitätseinschränkungen den Zugang zu Kultur. Auch bei den Bayreuther Festspielen konnten in Wagners „Parsifal“ über 300 Zuschauende einen erweiterten Bühnenraum mit AR-Brillen auf ihren Plätzen erleben.
Das Performancekollektiv Nico and the Navigators hat mit seinen AR-Projekten „Verrat der Bilder“ und „Du musst dein Leben rendern!“ Darsteller:innen mit ihren Digitalen Zwillingen performen lassen – Avataren, die in Form von Gliederpuppen über AR-Brillen auf die Bühne projiziert werden. Außerdem koppelten die Kollektivmitglieder mehrere dutzend AR-Brillen und machten so den halbvirtuellen Raum gemeinsam gestaltbar.
In ihren Projekten gehen Kunst- und Kulturschaffende oft technisch über das hinaus, was die Hersteller:innen der Brillen für möglich halten. Die VR-Künstler Marcel Karnapke und Björn Lengers aka Cyberräuber erkunden mit ihren immersiven Installationen und Tanzperformances die Grenzen der Mixed Reality – für Performende und Publikum gleichermaßen. Ein Beispiel: Ihr Cyberballet ist eine theatrale Installation, die Tanz in die virtuelle Realität überträgt und einer Künstlichen Intelligenz beibringt, sich zu bewegen.
Die Mehrwerte für die künstlerische Praxis und Vermittlung auf und vor der Bühne liegen auf der Hand. Aber auch hinter den Kulissen können die XR-Technologien als Werkzeug Arbeitsprozesse erleichtern und Workflows effizienter machen, wie es für den Theaterbereich jüngst das Projekt Im/material Theatre Spaces der DTHG aufgezeigt hat.
Am „theater junge generation“ Dresden können mittlerweile fast alle Bauproben auch virtuell stattfinden und komplexe Bühnenbild-Elemente mithilfe von AR-Anleitungen aufgebaut werden.
Lesetipp
Zur Aufgabe und Funktionsweise von virtuellen
Bauproben siehe auch:
Selbst der Entwurfsprozess für Bühnenbildner:innen ist digital gestützt von Anfang an in 3D möglich und erleichtert den Austausch mit den technischen Abteilungen und Werkstätten. Das Staatstheater Kassel demonstriert mit dieser Arbeitsweise an seiner sogenannten Raumbühne schon seit mehreren Spielzeiten, wie sinnvoll und effizient diese Methode für die künstlerische Zusammenarbeit ist.
Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass insbesondere die Arbeit mit XR-Technologien die transdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Künsten fördert – Genregrenzen werden neu definiert, Wissen zwischen allen Bereichen erarbeitet, neue Berufsfelder entstehen.
Mehr Mut zu nachhaltiger Förderung nötig
Dass es der deutschen Kulturlandschaft vielerorts nicht am Willen mangelt, neue Horizonte zu erschließen, zeigen die vorgestellten Projekte eindrucksvoll. Die Potentiale immersiver Technologien sind unübersehbar und mit großer Eigeninitiative der Branche und öffentlichen Projektförderungen ans Licht gebracht worden. Blickt man jedoch über den Tellerrand, zum Beispiel in Richtung Skandinavien oder Großbritannien, wird sichtbar, wie fest diese Technologien dort im Alltag von Kulturakteur:innen verankert sind und wie systematisch ihre Potentiale erschlossen werden. Um in Deutschland den Anschluss zu wahren, muss die Kulturförderung strukturell nachjustieren:
Zum Beispiel beim Thema (digitale) Nachhaltigkeit: Wie können die Ergebnisse von öffentlich geförderten Projekten so aufbereitet und weitergegeben werden, dass sie einen nachhaltigen Nutzen entfalten?
Die Ergebnisdokumentation ist bei Förderprojekten zwar zumeist Pflicht, aber es mangelt an Modellen, die die Nachnutzung von Ergebnissen mit einbeziehen. Zudem braucht es mehr Ressourcen für echten Wissenstransfer, der auch nach Projektende Erkenntnisse auf lange Sicht anwendbar macht und weitere Akteur:innen vernetzt.
Lesetipp
Ein positives Beispiel solch einer kollaborativen
Wissensplattform ist Nachkritik.plus:
Auch die Verankerung und langfristige Verbreitung des in Projekten entstandenen Wissens innerhalb der umsetzenden Organisationen sollte bei Förderungen besser mitgedacht werden. Wenn ein Projekt dort nachhaltig wirken soll, dürfen Lizenzen für die genutzte Software nicht unmittelbar nach Projektende auslaufen. Auch die Wartung von Hardware über das Projektende hinaus müsste im Kostenplan von
Projekten mitgedacht werden können.
Ein weiterer Punkt: Die Nachnutzung von Software, die für das Projekt erst entwickelt wurde. Oliver Proske, Geschäftsführer und Technischer Leiter von Nico and the Navigators, gibt Einblick: „Wir verfügen über einen großen Pool an Soft- und Hardware für die Umsetzung von AR-Projekten. Es ist aber unglaublich schwierig, diese Ressourcen in Kooperationen sinnvoll weiter zu nutzen, da viele Projektträger eigene Dienstleister
mit der Anpassung der Technik für ihre Bedürfnisse beauftragen und wieder bei null anfangen. Ich glaube, dass wir eher mit Gemeinschaftsarbeiten weiterkommen, bei denen neue Anwendungen auf den Erfahrungen der vorangegangenen basieren.“
Die Förderung spartenübergreifender Nachnutzungs-Kooperationen, die im besten Fall die Infrastruktur etablierter Kulturinstitutionen mit der Experimentierfreude der freien Kreativszene zusammenbringen, wäre hier also sinnvoll.
Ein weiterer Verbesserungsbedarf in der Fördersphäre: Wer kein klares und messbares Projektziel formulieren kann oder möchte, bekommt meist auch kein Geld. Dabei ist in der Arbeit mit innovativen Technologien am Anfang selten klar, was am Ende herauskommt. Die Förderung von ergebnisoffenem, prozessorientiertem Arbeiten täte hier Not – gerade, wenn Technologie (wie in der Kultur üblich) jenseits ihrer ursprünglichen Bestimmungen verwendet wird. Und erst durch Finanzierung geschaffener Freiraum ermöglicht es Kulturschaffenden, ihre Kreativität voll zu entfalten.
Maja Stark, die zu XR in Kunst und Kultur forscht sowie an der HTW Berlin EFRE-geförderte XR-Projekte für die freie Kulturszene Berlins koordiniert, beobachtet: „Meistens scheitert die tiefere künstlerische Auseinandersetzung mit XR an einem Mangel an Zeit, da die Kulturschaffenden parallel ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Für eine erfolgreiche Arbeit mit XR-Technologien ist aber eine intensive Auseinandersetzung mit dem neuen Medium gerade zu Beginn sehr wichtig.“
Interessant wären auch Ansätze, die es für Hersteller von Hard- und Software noch attraktiver machen, ihre Produkte für alle Menschen nutzbar und zugänglich zu machen. XR-Technik beispielsweise erleichtert zwar Menschen mit Mobilitätseinschränkungen den Zugang zu Kulturerlebnissen. Gleichzeitig haben sehbehinderte Menschen teils keine Möglichkeit, durch die Menüführung der zugehörigen Software zu finden.
Die Kultur kann eine gute Partnerin sein, um Verbesserungspotentiale bei den Themen Barrierefreiheit und Inklusion aufzuspüren. So entwirft die Berliner Künstlerin Katharina Haverich in ihrem aktuellen Projekt einen multifunktionalen und inklusiven virtuellen Arbeits- und Aufführungsort [Anm.d.Red.: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung auf kultur-b-digital.de ist das Projekt abgeschlossen]. Er basiert auf der Social VR-Software „VRChat” und soll den Anforderungen an barrierearmes Arbeiten in der Kulturproduktion gerecht werden. Dabei bezieht sie auch die Expertise von Menschen mit kognitiven Einschränkungen sowie Seh- und Hörbehinderungen ein.
Die Notwendigkeit der Transformation wird auch für die Ausbildungsstätten spürbar: Im August 2023 ist die duale IHK-Ausbildung „Gestalter/-in für immersive Medien“ gestartet und schafft Nachwuchs für den Spagat zwischen Informatik, Medien und Design. Auch Leuchtturmprojekte wie die Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund sind richtungsweisend, können aber den Fachkräftemangel und den Bedarf an technologieaffinen und digitalkompetenten Nachwuchskräften im Kulturbereich nicht decken. An den Hochschulen gibt es zudem bislang nur vereinzelte Beispiele für künstlerisch-technische Kompetenzvermittlung im Bereich immersiver Medien.
Genauso fehlt es an virtuellen Lernumgebungen, die das Potential des räumlichen Lernens in XR nutzen. Auch die technische Ausstattung und die Verstetigung in den Studiengängen lässt zu wünschen übrig. Erste Hochschulen und Initiativen gründen Netzwerke, wie zum Beispiel das XR-Lab Berlin. Start Up-Inkubatoren wie das Wave Lab der HfM München ermöglichen den jungen Absolvent:innen, ihre Ideen weiterzuentwickeln. Alles erste wichtige Signale, die ausgebaut werden sollten, um den erhöhten Bedarf an Fort- und Weiterbildung in diesem Bereich abzudecken, Ressourcen und Know-how nachhaltig zu teilen und den Austausch in der Branche zu fördern.
Fazit
Die Kulturszene ist ungemein stark darin, sich kritisch mit Technologie und Digitalisierung auseinanderzusetzen. Wirklich gut kann sie das aber nur, wenn es über einzelne Leuchtturmprojekte hinaus systematische und langfristige Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit – beispielsweise – XR-Technologie gibt. So könnten auch Wechselwirkungen zwischen Kulturpraxis und technologischer Weiterentwicklung besser identifiziert werden.
Den Startschuss für das nachhaltige Implementieren immersiver Technologien in den Institutionen und Arbeitsprozessen der Kulturakteur:innen muss notwendigerweise die Politik geben. Die Kulturszene ist bereit.