Suche
Close this search box.

Im/material Theatre Spaces. Ein Forschungsprojekt zu Augmented und Virtual Reality im Kulturbereich

Wie lernt man ein Handwerk, wenn die Hände nicht ans Werk kommen können? Wenn Besuche im physischen Theaterraum nicht möglich sind, können Bühnentechniker:innen und Studierende von Technologien profitieren, die Theatertechnik virtuell anfassbar machen.

Projektleiterin Franziska Ritter und ihr Mitarbeiter Vincent Kaufmann bei der Arbeit. © Maria Bürger (CC BY-NC-ND 4)

Projektsteckbrief

Förderungen
Projekt gefördert vonBeauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
Umsetzung
Kooperationspartner:innen (bei den vorgestellten Teilprojekten)Berliner Hochschule für Technik, ETTE Council (European Theatre Technicians Education Project), Akademie für Theater und Digitalität Dortmund, Deutsches Theater Berlin
Angaben zur Projektlaufzeit2,5 Jahre (Herbst 2019 – Frühjahr 2022)
Projekt-Websitehttps://digital.dthg.de/
ProjektstatusAbgeschlossen
Verwendete Technik und Software AR-Brillen, VR-Brillen, XR-Software (WebXR), 3D-Software (Unity 3D, Simlab Composer)
ZielgruppeKultur- und Wissenschafts-Institutionen, Studierende
Materialien
DokumentationAbschlusspublikation
NachnutzungWissensdatenbank von nachtkritik.plus, Projekt Spielräume des Berliner Ensembles und der Komischen Oper, Virtuelle Labore der MINT-Fächer an der Hochschule für Technik

In einem meterhohen Labyrinth aus Stahl kriechen Menschen von Ebene zu Ebene, spinnen Intrigen, verführen einander. Im Verlauf des Stücks driften Teile des Labyrinths auf der Bühne auseinander und bringen die Verhältnisse unter den Darsteller:innen zum Tanzen.

Das Bühnenbild in Barrie Koskys Inszenierung von Brechts Dreigroschenoper am Berliner Ensemble ist so schwindelerregend wie komplex. 2800 Kilo Stahl haben Bühnentechniker:innen hier verbaut – in 1400 Arbeitsstunden. Um solche Bauten errichten zu können, musste ihr Arbeitsort ihnen in vielen Praxisstunden in Fleisch und Blut übergehen.

Was, wenn das nicht geht, weil man gar nicht vor Ort sein kann? Schon vor der Pandemie standen Bühnenorte vor dieser Herausforderung. Zum Beispiel bei Kooperationsprojekten, die über große Distanzen hinweg geplant werden. Ab März 2020 verloren dann auch Studierende der Theatertechnik, Veranstaltungstechniker:innen und alle anderen, die in der Kultur handwerklich tätig sind, den Zugang zu ihrem Ort des Ausprobierens und Anfassens.

Digitalitätsforschung to the rescue!

Die Arbeit der Theaterforscher:innen Pablo Dornhege und Franziska Ritter bekam mit der Pandemie zusätzlichen Antrieb. Die beiden Forscher:innen hatten 2019 mit digital.DTHG die Digitalabteilung der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft gegründet und das erste Projekt „Im/material Theatre Spaces“ (Im/Materielle Theaterräume) angestoßen.

Dort untersuchten sie ohnehin, was digitale Tools fürs Theater leisten können – mit einem Fokus auf XR-Technologien. Letztere erzeugen virtuelle Realitäten oder reichern unsere Realität mit virtuellen Inhalten an.

Ritter und Dornhege sahen die Probleme, vor denen der Kulturbereich plötzlich stand und begannen nach Lösungen zu suchen. Im Laufe von drei Jahren entwickelten sie zusammen mit Partner:innen aus Kultur, Forschung und Industrie neue Ansätze und Prototypen für konkrete Herausforderungen am Theater, im Museum und in der Hochschullehre, die zu Teilen auch schon vor der Pandemie bestanden. Sämtliche Ergebnisse findet ihr in der Abschlusspublikation des Projekts. Zwei von ihnen stellen wir euch hier kurz vor.

Lesetipp

Die wichtigsten Basics zu Augmented und Virtual Reality findet ihr hier:

Augmented Reality: Virtuelle Objekte in realen Räumen

Virtual Reality im Studium der Theatertechnik

Theatertechnik studieren kann man in Deutschland nur an der Berliner Hochschule für Technik (ehemals Beuth Hochschule). Für die ersten Erfahrungen mit Bühnenbild, Lichttechnik oder Akustikmessung gibt es dort ein Theaterlabor – das durch die Pandemie plötzlich nicht mehr genutzt werden konnte. Der Einsatz für das Team um Ritter und Dornhege.

Prof. Rolfes (Hochschule für Technik) erklärt dem digital-DTHG-Team, wie ein Kettenzug funktioniert (© DTHG Service GmbH, CC BY-NC-ND 4.0)

Um Studierenden auch im Heimstudium das haptische Kennenlernen ihrer späteren Arbeitsumgebung und -geräte zu ermöglichen, bauten sie und ihr Team das Theaterlabor virtuell nach. Über VR-Brillen konnten Studierende dann beispielsweise das richtige Zusammensetzen eines Kettenzuges üben. Dabei zeigte sich, welchen Mehrwert immersive Technologien auch unabhängig von Pandemiezeiten haben können.

In der analogen Lehre konnten zuvor nur einzelne Studierende vor der Klasse tatsächlich Hand an einen Kettenzug legen. Den anderen blieb nur das Lernen durch Beobachtung. In der virtuellen Realität konnten nun alle Studierenden den Vorgang dreidimensional und aus der Nähe nachvollziehen.

Virtual Reality kann außerdem Erfahrungen ermöglichen, die analog nicht umsetzbar sind: Wer Theatertechnik studiert, musste bisher seine Vorstellungskraft nutzen, um sich das Zusammenspiel vom oberen und unteren Teil der Theaterbühne (Ober- und Untermaschinerie) vorzustellen. Es in Gänze gleichzeitig zu beobachten, ging physisch nicht.

Die im Projekt für den Theaterkontext weiterentwickelte VR-Anwendung (WebXR) kann mit dreidimensionalen, potenziell auch interaktiven Animationen helfen, solche komplexen Zusammenhänge räumlich zu vermitteln.

Im Projekt machte das digital-DTHG-Team auch ein historisches Schauspielhaus virtuell begehbar und entwickelte ein Theaterstück, bei dem Publikum und Darsteller:innen gemeinsam virtuelle Welten erkunden. In der Wissenschaftssendung Soup&Science, die die Technologiestiftung Berlin in Kooperation mit rbb24 Inforadio umsetzt, berichtete Franziska Ritter im Februar 2023 davon.

Hörtipp

Projektleiterin Franziska Ritter bei rbb24 Inforadio:

Soup and Science: Das immaterielle Theater

AR-gestützte Anleitungen für die Bühnentechnik

Auf Theaterbühnen werden komplexe Gerätschaften eingesetzt, die aus vielen Einzelteilen bestehen und je nach Einsatzort unterschiedlich verbaut werden müssen. Veranstaltungstechniker:innen steht dafür oft nur eine allgemein gehaltene Anleitung zur Verfügung – in Papierform. Äußerst unpraktisch, wenn man beide Hände für die Arbeit benötigt.

Auch bei solchen handfesten Praxisproblemen wollten Ritter und Dornhege mit ihrer Forschung nachhelfen. Am Einbau einer häufig verwendeten Vorhangschiene entlang entwickelten die Forscher:innen deshalb den Prototypen einer AR-gestützten Schritt-für-Schritt-Anleitung. Hierfür bildeten sie zuerst die Elemente der Vorhangschiene in digitalen 3D-Modellen ab.

Die einzelnen Arbeitsschritte reicherten sie dann mit Informationen zu häufigen Schwierigkeiten und möglichen Lösungswegen an und bauten aus allem eine 3D-Anleitung. So konnten die Techniker:innen des Deutschen Theaters, die anschließend zum Praxistest geladen wurden, das korrekte Zusammenbauen der Einzelteile über AR-Brillen aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Die waren begeistert und wünschten sich mehr solcher Anleitungen für ihren Alltag.

2D-Screenshot aus der prototypischen Aufbauanleitung (© DTHG Service GmbH, CC BY-NCND 4.0)

Wohin die Reise gehen kann

Die Arbeit des Projekts zeigt: Augmented und Virtual Reality können nicht nur als erzählerisches Mittel dienen, das Bühnenstücken zusätzliche Bedeutungsebenen verleiht. Sie bieten auch Möglichkeiten für die praktische Arbeit hinter den Kulissen.

Nicht umsonst aber hat das Projekt sich der Entwicklung von Prototypen für verschiedene Nutzungsszenarien verschrieben. Theater mit eigenen Digitalsparten sind weiterhin seltene Leuchtturmprojekte. Auch hinter den Kulissen wird mit AR und VR bislang eher experimentiert als im Alltag gearbeitet, wie Franziska Ritter auch bei Soup & Science betonte.

Es geht hier also noch viel darum, Möglichkeiten auszuloten, Impulse zu setzen und bei Kulturbetrieben und in der Forschung Interesse zu wecken. Dafür aber eignen sich die von Ritter und ihrem Team entwickelten Anwendungen, die sämtlich unter einer Open-Source-Lizenz erschienen sind, offenbar gut.

Das Projekt Spielräume des Berliner Ensembles und der Komischen Oper machte bereits von den Entwicklungen Gebrauch. Die Software zum virtuellen Theaterlabor wird weiterhin in virtuellen Laboren der MINT-Fächer an der Hochschule für Technik eingesetzt.

Die Deutsche Theatertechnische Gesellschaft bietet überdies (teils kostenpflichtige) Workshops für Kulturinstitutionen und Einzelpersonen an. Sie bauen auf den Forschungsergebnissen auf und reichen vom kurzen Impulsvortrag bis zur mehrtägigen Planung und Umsetzung einer virtuellen Bauprobe.

Text: Thorsten Baulig