Übersichtlich, anonym und fair: Ein digitales Tool für Juryverfahren (in German)

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Der Berlin Art Prize e.V. hat eine Open Source-App entwickelt. Das Ziel: Bewerbungsprozesse und umfangreiche, multimediale Portfolios einfacher koordinieren und Juryverfahren übersichtlicher und chancengleicher machen. Wir stellen das digitale Tool hier vor.

Screenshot zum Juryverfahren in der App Yes No Maybe
Screenshot aus dem Jurierungsteil der App des Berlin Art Prize

Egal ob Kunstpreis, Festival oder Call for Papers: Immer dann, wenn vielfältige Einreichungen organisiert und kuratiert werden müssen, sind ein gutes Dateimanagement und kurze Abstimmungswege Gold wert. So entwickelte der Berlin Art Prize e.V. – eine unabhängige Auszeichnung für zeitgenössische Kunst in Berlin – in Zusammenarbeit mit dem Studio Yil&Mann ein online-basiertes Tool.

Mit der App soll das Bewerbungsmanagement nicht nur lückenlos digital und einfacher, sondern auch anonym gestaltet werden. Am 10.06.2021 lud kulturBdigital die Gründerinnen des Berlin Art Prize Sophie Jung & Alicia Reuter sowie die Kommunikationsdesigner und Web Developer Timm Hartmann & Denis Yilmaz zum Erfahrungsaustausch über ihr neues digitales Werkzeug ein. Konzipiert als Open Source-Projekt, steht das Tool auch anderen Kulturschaffenden zur Verfügung.

Info

Dieses Projekt wurde gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa.

Infos zum Förderprogramm

Ein digitales Juryverfahren, bei dem nur die Kunst zählen soll

Der Berlin Art Prize wurde 2013 von vier Berliner Kulturschaffenden ins Leben gerufen und versteht sich selbst als „subversive Coverversion bestehender Kunstpreise“ indem er das Ziel verfolgt, eine Auszeichnung für die Community jenseits der Ökonomie der Kunstwelt zu schaffen. Das Konzept des Kunstpreises ist denkbar simpel und kommt doch selten vor: Offen für alle und dabei anonym – nur die Kunst soll zählen. Die Softfacts der Bewerber:innen sollen soweit wie möglich ausgeblendet und der Inhalt der Kunst in den Fokus gerückt werden.

Kennzeichnend und damit eine Besonderheit unter den zeitgenössischen Kunstpreisen sei der Mitbegründerin des Berlin Art Prize Sophie Jung zufolge das Open Call-Verfahren, wodurch sich alle Berliner Künstler:innen ungeachtet ihres Hintergrunds oder sonst determinierender Soft-facts, wie Beziehungen, bisherige Ausstellungsgeschichte oder Vermarktung der eigenen Künster:innenpersona, bewerben können. Pro Ausgabe des unabhängigen Kunstpreises gehen durchschnittlich 800 Bewerbungen mit multimedialen Portfolios ein, die das Team des Berlin Art Prize zusammen mit einer fünfköpfigen Jury auf neun Nominierte für das öffentliche Programm reduziert. Mit dieser Offenheit und hohen Bewerber:innenzahl geht folglich auch eine hohe Datenlast und zeitintensive händische Bearbeitung einher, deren Bewältigung ein gutes System bedarf.

Aus diesem Grund hat der Berlin Art Prize in Zusammenarbeit mit Yil & Mann ein online-basiertes Werkzeug für eine alternative Struktur des Bewerbungs- und Auswahlprozesses entwickelt.

Hürden bei der analogen Jurierung

Datenlast, Zeitaufwand & Hardware-Kosten

Jede:r Künstler:in kann bei der Bewerbung des Berlin Art Prize bis zu fünf Kunstwerke z.B. als einzelne PDF-Dateien einreichen. Bereitgestellt wurden diese Dateien in der Vergangenheit meist als Link im Portfolio, via E-Mail oder Filesharing. Insbesondere die zeitbeschränkte Verfügbarkeit von Dateien via Filesharing brachte einen enormen Zeitdruck sowie ggf. erneute Kontaktaufnahme mit den Künstler:innen mit sich, beschreibt die Mitbegründerin des Berlin Art Prize Alicia Reuter. Die eingereichten Bewerbungen und Portfolios enthalten zudem meist Sound-, Video- oder Textdateien, deren Download sehr zeit- und rechenleistungsintensiv ist. Insgesamt komme Sophie Jung zufolge eine riesige Datenmenge zusammen, deren Verwaltung komplex und sehr arbeitsintensiv sei.

Eine zudem jährlich auftretende Fehlerquelle sei die händische Bearbeitung der Materialien gewesen, wodurch hin und wieder Dateien vergessen, verloren oder falsch nummeriert wurden, sagt Alicia Reuter. Einen weiteren Aspekt stellten die hohen Anschaffungskosten von Hardware, wie z.B. externe Festplatten zur Dateiablage und zur Bereitstellung der Dateien für die Jury dar.

Tab-Fülle & Grenzen der Kommunikation

Die Arbeit mit einer Vielzahl diverser künstlerischer Formate sowie unterschiedlichen Dokumenten für Anmerkungen und internen Meinungsaustausch führte neben der zuvor genannten Datenflut laut Alicia Reuter auch dazu, dass man „zu viele offene Tabs überblicken muss und man leicht abgelenkt ist. Man kommt nie wirklich in den Fokus, nur die Arbeiten zu betrachten“. Die Fülle der im Browser geöffneten Tabs entpuppte sich somit als ein Hemmnis für die Konzentration und zielgerichtete Produktivität.

Weiterhin stellt der interne Austausch von Anmerkungen sowie Diskussionsrunden mit der Jury einen elementaren Bestandteil des Auswahl- und Bewertungsprozesses der Arbeiten dar. Diese fanden jedoch zuvor überwiegend in einem geteilten Dokument statt, welches wenig Flexibilität und Spontanität bot.

Funktionen und Ziele des neuen, digitalen Tools

Entlastung von Bewertungsabläufen

Das neue, lückenlos digitale Tool ermöglicht eine gebündelte Koordination verschiedener Arbeitsschritte und vereinfacht die Verwaltung großer Datenmengen. Dabei ersetzt es den Datentransfer der Portfolios via Email, Filesharing und Link indem alle Dateien in der App hochgeladen und gespeichert werden können. Das erspart zum einen zeitintensive Downloads der Arbeiten, zum anderen können durch den online-Zugriff alle Beteiligten ortsunabhängig auf die Dateien zugreifen, wodurch auch Hardware-Kosten für beispielsweise externe Festplatten eingespart werden können.

Auch ist das Tool technisch für mehrstufige Bewerbungsprozesse ausgelegt. Damit die Jurierungs-Prozesse dynamisch ablaufen können, sind alle Funktionen des Tools wie z.B. der Chat oder die Bewertungen interaktiv und in Echtzeit abrufbar, sodass Abstimmungen sowohl online, als auch in live-Präsenz gehalten werden können.

Flexible Kommunikation und Austausch für den Bewertungsprozess

Durch die Internationalität der Jury ist eine gute, flexible Kommunikation wichtig. Deshalb wurde in der App eine Chatfunktion implementiert, sodass man über die Vorteile und lockere Atmosphäre eines Chats verfügt.

„Heutzutage sind Teams im Kulturbereich relativ verstreut und arbeiten von überall. Man muss trotzdem einen Weg finden, klar zu kommunizieren. Dafür ist dieser Chat besonders wichtig“, sagt Sophie Jung. Vor allem aber sei ein Austausch der Jurymitglieder unabdingbar für ein gutes Verständnis und eine vertiefte Bewertung der Einreichungen. Neben den lockeren Chats, die an jeweils eine Einreichung geknüpft sind, verfügt das Tool daher über eine obligatorische Kommentarfunktion, die bei jeder Bewertung nach dem dreistufigen YesNoMaybe-Verfahren aktiviert wird.

Die interne schriftliche Kommunikation im Tool stelle zudem nicht nur bei der Auswahl und Bewertung der Arbeiten einen elementaren Bestandteil des Berlin Art Prize dar, sondern auch eine wichtige Hilfestellung für nachfolgende Textproduktionen oder Gespräche mit den Künstler:innen.

Das neue System vereint und optimiert die Verwaltung der unterschiedlichen Formate innerhalb der App sowie den internen Austausch. Sophie Jung resümiert die Software als eine Art Schweizer Taschenmesser für das Juryverfahren: „Letztlich fügt sie alle verschiedenen Prozesse, die wir haben, zusammen“.

Anonymität

Ziel des neuen Systems ist neben einer zeitlichen und funktionalen Arbeitserleichterung auch die gesicherte Anonymität der Bewerbenden, denn die Anonymisierung der eingereichten Arbeiten stand von Beginn an im Fokus des Berlin Art Prize.

Über die Software werden zum Teil komplexe Künstler:innen-Portfolios eingereicht und mit einem Alias codiert. Ein angeknüpftes CMS lässt die Portfolios für die Jurierung abrufen, verschlagworten und mit interaktiven Bewertungsfunktionen einordnen. Das Tool erinnere laut Alicia Reuter die Bewerber:innen beispielsweise daran, bei ihren Eingaben nicht den eigenen Namen zu verwenden. So erfährt die Jury insgesamt weder Lebenslauf, Namen, Alter noch andere Softfacts über die Teilnehmenden. Denn Sophie Jung zufolge sind es gerade „diese Softfacts, die die Kunstwelt häufig so verzerren und so kompetitiv und unsozial machen. Wir möchten versuchen, durch die Anonymität möglichst die Inhalte der Kunst bei einer Bewertung, Auswahl und Nominierung in den Vordergrund zu rücken“.

Auch die Gefahr der Doppelbewerbungen werde adressiert: Beim Berlin Art Prize werden Mehrfachbewerbungen zum einen durch eine Bewerbungsgebühr ausgebremst und können zum anderen auch vom Team anhand der E-Mailadresse der Bewerbenden nachvollzogen werden. Die Jury erhält lediglich den Einblick auf die mit einem Alias versehenen Einreichungen, sodass die Anonymität bestehen bleibt und das neue Tool somit zu einem chancengleicheren Jurierungsverfahren beiträgt.

Screenshot YesNoMaybe-App: Start digitales Juryverfahren
Screenshot aus der YesNoMaybe-App: Login
Screenshot YesNoMaybe-App: Eingabemaske zur Verwaltung von Einreichungen
Screenshot aus der YesNoMaybe-App: Eingabeformular für Künstler:innen

Technische Merkmale der YesNoMaybe-App

Das Projekt ist vollständig Open-Source und alle Daten können über das Software-Entwicklungsportal GitHub heruntergeladen und mittels hinterlegter Anleitung installiert und implementiert werden. Jedoch ist ein Grundwissen im Umgang mit GitHub und Software-Entwicklung, sowie Erfahrungen mit Angular (User Interface), Hasura (Datenbank) und Firebase (Authentifizierung, Hosting) empfehlenswert.

YesNoMaybe-App selbst nutzen

Quellcode herunterladen via GitHub

„Gewisse Vorkenntnisse sind für das Tool notwendig. Aber im Gesamten glauben wir, dass es für erfahrene Entwickler:innen überschaubar ist“, erklären Timm Hartmann und Denis Yilmaz. Es sei auch nicht zwingend ein eigener Server notwendig.

Eine ausführliche Vorstellung der YesNoMaybe-App gibt es im nachfolgenden Video von Yil & Mann zu sehen:

Demonstration der App für ein digitales Juryverfahren. Video: Yil & Mann

Auch in anderen Kontexten nutzbar? Unbedingt!

„Während des Prozesses haben wir festgestellt, dass die Liste an Ideen und Möglichkeiten für das Tool immer weiter wächst. Das war auch der Grund, warum wir uns bei der Applikation zum Ziel gesetzt haben, sie so flexibel wie möglich aufzusetzen, damit sie perspektivisch auch sehr gut weiterentwickelt werden kann“, sagt Denis Yilmaz. Insgesamt waren sich alle Beteiligten einig, dass die App auch in anderen Kontexten als in einem Kunstpreis-Juryverfahren eingesetzt werden könnte und die teilnehmenden Gäste loteten zum Ende der Veranstaltung bereits verschiedene Anwendungsmöglichkeiten entsprechend ihrer Arbeitsschwerpunkte aus. 

YesNoMaybe-App: Funktionen im Überblick

Multilingual

aktuell Deutsch & Englisch, Übersetzungstabellen für weitere Sprachen vorhanden

Artist-Dashboard

Anonymität:

  • Anonymisierte Anmeldung durch Code-Vergabe; Geldeingang anonym nachvollziehbar via Code

Bewerbungsprozess:

  • Einreichen von Einzelbewerbungen und Gruppenbewerbungen per PDF oder als Einzeldateien; Hinzufügen der Bilder, Videos & Audio via Drag & Drop
  • Vorschau der Einreichungen in einem Präsentationsmodus wie er später auch der Jury zur Verfügung steht
  • Übersicht der Einreichungen mit Hinweisen zu evtl. fehlenden Angaben / Dokumenten

Kommunikation & Updates:

  • Automatisierte Status-Updates zum Bearbeitungsstand der Einreichungen und Informationen zur aktuellen Bewerbungsrunde

Jury-Dashboard

Gesamtansicht der zu bewertenden Einreichungen mit den bereits abgegebenen Bewertungen, Stimmen und Notizen.

Kommunikation & Updates:

  • Automatisierte Status-Updates zum Bearbeitungsstand der Einreichungen und Informationen zur aktuellen Bewerbungsrunde
  • Indexierung der Einreichungen durch Vergabe von tags um Archiv aufzubauen
  • Transparente, interne Chatfunktion zum Austausch innerhalb des Teams / der Jury über einzelne Kunstwerke oder ganze Einreichungen
  • Transparente Bewertung nach dreistufigen YesNoMaybe-Verfahren, da Bewertung nur mit inhaltlichem Kommentar möglich
  • Überblick zu Notizen aus Chat und Kommentaren aus Bewertung in Listenansicht, d.h. inhaltlicher Überblick über gesamten Bewertungsprozess auch bei großer Menge an Einreichungen
  • Präsentations-/ und Bewertungsmodus mit Galerieansicht der Werke bzw. der Einreichungen

Team-Dashboard

Übersicht Einreichungen während Bewerbungsphase:

  • Statistiken zu aktuellen Einreichungen (Anzahl der Bewerbungen mit Status Angelegt / In Bearbeitung / Abgeschlossen)
  • Übersicht der genutzten Medien der Künstler:innen

Übersicht der Bewertungen während Jurierung:

  • Bewertungsstatistiken: Anzeige des Bewertungsfortschritts der einzelnen Jurymitglieder
  • Anzahl der bewerteten Einreichungen mit Status Nominiert/ Ausgeschlossen/ Unbewertet

Verwaltung der Teilnehmenden:

  • Disqualifizieren einzelner Künstler:innen
  • Aufhebung der Anonymisierung von Teilnehmenden (Klarnamen) falls notwendig
  • Manuelle Neuvergabe eines Alias

Kommunikation & Bewertung:

  • Indexierung der Einreichungen durch Vergabe von Tags um Archiv aufzubauen
  • Transparente, interne Chatfunktion zum Austausch über einzelne Kunstwerke innerhalb des Teams/der Jury oder ganze Einreichungen
  • Transparente Bewertung nach dreistufigen YesNoMaybe-Verfahren, da Bewertung nur mit inhaltlichem Kommentar möglich
  • Überblick zu Notizen aus Chat und Kommentaren aus Bewertung in Listenansicht
  • Präsentations-/ und Bewertungsmodus mit Galerieansicht der Werke bzw. der Einreichungen

Text: Lara Schulte