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Kultur unterm Kopfhörer – Audiowalks machen die Stadt zur Bühne (in German)

This text is available only in German. Translations of selected articles and reports will be published in the following months.

Welche Formate für Audiowalks gibt es und wie können diese Angebote das Programm von Bühnen und Museen ergänzen? Um diese Fragen ging es am 25.08. 2021 in einer Online-Session von kulturBdigital.

Audiowalks: Fallbeispiel Brecht Stirbt, eine Kooperation des Berliner Ensembles und Raum+Zeit
Foto: Moritz Haase

Audiowalks haben in den letzten Monaten Kulturerlebnisse abseits des Streamings ermöglicht, Spaziergänge bereichert und öffentliche Räume für Kultur erschlossen.

Dabei arbeiten Gruppen wie Rimini-Protokoll oder LIGNA schon seit Jahren mit ortsgebundenen Audioangeboten. Neben der klassischen Variante – ein Mensch folgt einem Audiowalk durch die Stadt – gibt es unzählige Möglichkeiten: z.B. von Künstler:innen geleitete Audio-Choreografien oder Gruppenerfahrungen mit künstlicher Stimme im Ohr (z.B. „Remote Mitte X“).

Zu der Online-Session „Audiowalks & Audioperformances“ hat kulturBdigital Kulturschaffende eingeladen, die in den letzten Monaten Erfahrungen mit verschiedenen Anwendungsszenarien gemacht haben. Es ging um die künstlerischen Möglichkeiten, die das ortsspezifische Hören bietet, aber auch um praktische Fragen wie technische Ressourcen, Marketing und Refinanzierung. Zu Gast waren Anna Sinofzik (Georg Kolbe Museum), Bernhard Mikeska (Kollektiv RAUM + ZEIT), Karolin Trachte (Berliner Ensemble) und Torsten Michaelsen (Performance-Gruppe LIGNA)

Was macht den Reiz eines Audiowalks aus?

Mit dieser Frage eröffnete Silvia Faulstich von der Technologiestiftung / kulturBdigital Lab die Runde. Die Antworten ließen erahnen, wie vielfältig die Möglichkeiten sind. Für Karolin Trachte, Dramaturgin am Berliner Ensemble, ist ein Audiowalk dann gelungen, „wenn es theatral wird und die Zuhörer:innen Teil der Performance werden“. Bernhard Mikeska, der gemeinsam mit Karolin Trachte den Audiospaziergang „Brecht stirbt“ konzipiert hat, ergänzt: „Ein Audiowalk ist im besten Fall auf künstlerische Weise eine Begegnung mit sich selbst“. Anna Sinofzik vom Georg Kolbe Museum schätzt besonders die Qualitäten von Audiowalks als Vermittlungsformat, das die Forschungsarbeit der Institution interdisziplinär vernetzt. Und Torsten Michaelsen ergänzt: „Ein Audiowalk lässt einem im besten Fall etwas Bekanntes wieder fremd werden.“ Im Anschluss gaben die Referent:innen einen Einblick in ihre Werkstatt: Welche Themen haben sie in Audiowalks umgesetzt, wie waren die Produktionsabläufe, wie war die Resonanz?

Fallbeispiel Theater: „Der Tod in Venedig“ und „Brecht stirbt“

Eigentlich hätte Bernhard Mikeska (RAUM+ZEIT) im Mai 2020 eine szenische Installation für das Berliner Ensemble realisieren sollen. Es kam anders. Mit Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ fand der Künstler einen Stoff, der perfekt mit den Themen der ersten Corona-Monate resonierte. Die Handlung verlegte er vom venezianischen Lido in das Berliner Nikolaiviertel. Der Audiowalk nutzt einfache Mittel: Es gibt nur eine Sprechstimme und Atmo-Aufnahmen wie z.B. Schrittgeräusche. Für das Nachfolgeprojekt „Brecht stirbt“ war es RAUM +ZEIT wichtig, die Konstellation zu variieren und mit 5 Stimmen zu arbeiten. Dieser Audiospaziergang führt die Nutzer:innen auf den Spuren von Brecht und vier seiner engsten Mitarbeiter:innen zum Dorotheenstädtischen Friedhof.

„Unsere Ausgangsfrage bei der Umsetzung ist ‚Wer ist der Zuschauer?‘“, berichtet Bernhard Mikeska. Die Zuhörer:innen werden direkt adressiert, aber nicht als explizite Figur (z.B. “Du bist Brecht.”), sondern implizit: “Brecht geht los”. „Das wäre für uns sonst aufdringliches Mitmachtheater.“ Um eine möglichst lückenlose Immersion zu erreichen, sind die Wegbeschreibungen in den literarischen Text integriert. „Die Zuhörer: innen brauchen keine Karte, sondern können sich von der Stimme im Kopfhörer leiten lassen“, erklärt Karolin Trachte. Das stellt hohe Ansprüche an den Text, der in diesem Fall von Lothar Kittstein stammt. Er verbindet die literarische Vorlage mit Ortsbeschreibungen und Gegenwartsbezügen und erreicht damit etwas, das Karolin Trachte als zentral für theatrale Walks ansieht: „Der Text muss eine Form von Literatur sein und kein Gebrauchstext.“

Bei der Umsetzung kamen dann ganz praktische Fragen in den Blick: Passt die Länge des Weges zum Text? Finden die Zuhörer: innen den Weg? Das wurde vor der Premiere in mehreren Testläufen erprobt.

Für Karolin Trachte sind die entstandenen Audiowalks mehr als eine Notlösung für geschlossene Bühnen. Sie plant zum Beispiel ein Audio-Vermittlungsformat für Schulen unter dem Titel „Brecht to go“. „Wir können den urbanen Raum als Spielstätte erschließen. Und wir bekommen ein Format, das wir dauerhaft anbieten können – auch in Spielplanpausen.“

Fallbeispiel Museum: „Kolbe außer Haus“

Das Georg Kolbe Museum ist im ehemaligen Wohn- und Atelierhaus des Künstlers untergebracht. Neben Ausstellungen gehört das Aufbereiten des Nachlasses zu den zentralen Aufgaben, wodurch das relativ kleine Museum über ein umfangreiches Onlinearchiv verfügt. Während der pandemiebedingten Schließung suchte das Team nach einem Weg, dieses Archiv auch für interessierte Laien attraktiv zu machen. “Da lag es nahe, seine Werke im öffentlichen Raum als Fährten zur Onlinesammlung des Museums zu nutzen. Zum anderen hat uns die enge Beziehung des Bildhauers zur Architektur dazu inspiriert, seine und unsere Nachbarschaft – das Westend – mit einem Audiowalk zu erkunden.” Aus dieser Idee entstanden zwei Formate, die auf der gemeinsamen Webseite Kolbe außer Haus zusammengefasst sind: Der Audiowalk „Kolbes Kiez“ und das Angebot „Kolbe on the Map“, das Skulpturen im Stadtraum über eine digitale Karte mit kleinen Zeitreisen verknüpft.

Der Audiowalk ist als Erlebnisformat angelegt, das ausgehend vom Museum durch das Berliner Westend führt. Die Hörstücke greifen historische Inhalte auf – z.B. die architektonische Erschließung des Berliner Grunewalds – wollen gleichzeitig aber auch zur aktiven Stadtkritik im Jetzt animieren. Dabei setzten die Macher:innen bewusst auf Entdeckungen: „Das Westend ist kein Kulturhotspot. Wir wollten den Menschen die Möglichkeit geben, neue Orte zu erkunden“, sagt Anna Sinofzik. In der Umsetzung arbeitete das Kolbe Museum mit POLIGONAL Büro für Stadtvermittlung zusammen. Die entstandenen Hörstücke leben von Vielstimmigkeit und Interdisziplinarität: Sie erzählen Stadtgeschichte, lassen aber gleichzeitig aktuelle Bewohner: innen der Gebäude zu Wort kommen.

Das Angebot „Kolbe on  the Map“, das Skulpturen im Stadtraum über eine digitale Karte mit kleinen Zeitreisen verknüpft, kommt ohne Tonspur aus, bietet aber zahlreiche Archivfotos und redaktionell aufbereitete Hintergrundinformationen rund um die Skulpturen von Georg Kolbe und deren städtebaulichen Kontext. Beide Formate erweitern den Wirkungsradius des Museums indem sie seine Forschungs- und Vermittlungsarbeit mit dem Berliner Stadtraum verknüpfen.

Fallbeispiel Choreografie / Tanz: “Zerstreuung überall! – eine Audioperformance”  

Das Kollektiv LIGNA gehört zu den Pionieren im Bereich Audioperformance. 2002 machten die Künstler:innen den Hamburger Hauptbahnhof zur Bühne für ihr erstes „Radioballett“. „Wir wollen mit unseren Arbeiten ausloten, welche Bewegungen im öffentlichen Raum akzeptiert sind. Und was passiert, wenn man diese Regeln bricht“, sagt Torsten Michaelsen. Nach der Premiere in Hamburg wurde das Radioballett an wechselnden Orten neu inszeniert. Dafür arbeitet LIGNA mit internationalen Choreograf:innen zusammen, die kleine Tanzszenen vorgeben, denen das Publikum über Anweisungen im Kopfhörer folgt. Oder auch nicht: „Wir greifen während des laufenden Stückes nicht ein, sondern übergeben das Stück ans Publikum“, sagt Torsten Michaelsen. Während der Pandemie ließ sich dieser Ansatz nicht komplett durchhalten: Die Teilnehmenden mussten sich an festgelegte Abstände halten, damit das Radioballett – das von der Gruppensituation lebt – sicher stattfinden konnte.

Um der Enge des Lockdowns etwas entgegenzusetzen, war die Auswahl der Choreografien für „Zerstreuung überall!“ bewusst international mit einem Schwerpunkt auf Ostasien. „Wir hatten einige Anfragen von Tanzfestivals, die das Format genutzt haben, um einen Ersatz für eine schon vereinbarte Kooperation anzubieten“, so Torsten Michaelsen. Anders als bei den zuvor vorgestellten Audiowalks gibt es bei der Gruppen-Audioperformance festgelegte Spielzeiten, nach denen sich das Publikum richten muss. Dafür ist die technische Umsetzung für die Teilnehmer:innen komfortabel: Sie müssen sich nur die bereitgestellten „Silent Disco“-Kopfhörer aufsetzen.

Der Segen der Consumertechnik und Binaurale Aufnahmen

In der anschließenden Fragerunde hatten die Teilnehmer: innen der Online-Session die Gelegenheit, Tipps und Tricks für ihre eigenen Projekte mitzunehmen.

Dabei wurde deutlich, dass die technische Umsetzung stark von der Zielgruppe abhängt. Das Georg Kolbe Museum wollte das ältere Publikum nicht überfordern und bietet deshalb den Audiowalk nicht nur in einer App an, sondern auch per Browser.

Das Berliner Ensemble setzt bei seinen Audiospaziergängen etwas mehr technisches Vorwissen voraus: Die Hörer:innen bekommen einen Downloadlink und hören die Audiodatei über ihr eigenes Smartphone oder einen MP3-Player – im Idealfall mit einem geschlossenen Kopfhörer der Umgebungsgeräusche ausblendet. „Das ist eine kleine Hürde, aber aus unserer Sicht einfacher als Geräte auszuleihen“, sagt Karolin Trachte. Um die Immersion zusätzlich zu verstärken, arbeitet Bernhard Mikeska mit binauraler Aufnahmetechnik, die einen räumlichen Höreindruck erzeugt. Torsten Michaelsen von LIGNA hat beinahe 20 Jahre Erfahrung und lobt vor allem, wie nutzer:innenfreundlich die Consumertechnik inzwischen geworden ist. Dadurch sind Audioperformances und Audiowalks zu Formaten geworden, die sich mit wenig Aufwand produzieren und konsumieren lassen.

E-Mails an Bertold Brecht

Auch im Bereich der Distribution hat sich vieles getan und entsprechend viele Wege gibt es, die Audio-Dateien zur Verfügung zu stellen. Das Kolbe Museum arbeitet mit einem Player auf der Website und der App Drifter. Beides lässt sich unkompliziert mit neuen Inhalten befüllen, so dass das Audioangebot weiter wachsen kann.

Das Berliner Ensemble stellt eine MP3-Datei zur Verfügung, geht dabei aber einen kleinen Umweg: „Wir wollten mit dem Publikum zumindest kurz in Kontakt sein. Deswegen muss man uns eine E-Mail schreiben und wir schicken den Downloadlink zu“, erklärt Karolin Trachte. Die Mailadresse ist dabei schon Teil der theatralen Inszenierung und verweist auf den engen Bezug des Berliner Ensembles zu Berthold Brecht: bert@berliner-ensemble.de

Weil die Resonanz auf die Audiospaziergänge gut ist, plant RAUM+ZEIT für ihren dritten Audiowalk RENDEZVOUS ab Oktober ein Shop-Modell, wo man die Audiodatei für 5 Euro kaufen kann. Die bisherige Finanzierung über Spenden reicht nicht zur Monetarisierung.

Als schwierig erwies sich, die Audiowalks auf der Museums- bzw. Theaterhomepage einzubinden, weil die Eingabemasken auf feste Daten und Startzeiten ausgelegt sind. Mit der Zahl der Audiowalks steigt auch das Angebot von spezialisierten Distributionsplattformen. Empfohlen wurde in der Online-Session z.B. das internationale Archiv für Field-Recordings „Radio Aporee“. Hier können Nutzer:innen nicht nur fertige Audiowalks anhören, sondern über eine GPS-Funktion auch eigene Walks kuratieren. Die Audiowalk-Pioniere von Rimini Protokoll haben vor Kurzem die App „The Walks“ entwickelt und werden dadurch selbst zum Veranstalter. Die App bietet eine wachsende Sammlung von Walks an verschiedenen Orten und in verschiedenen Sprachen an.

Die Zeit- und Ortsbezogenheit von Audiowalks ist dabei gleichzeitig ein Problem und eine Chance sagt Torsten Michaelsen von LIGNA: „Der Stadtraum in Berlin hat sich in 10 Jahren so verändert, dass mittlerweile ein älteres begehbares Stück von uns heute überhaupt nicht mehr begangen werden kann, weil es nicht mehr so ist, wie wir damals davon ausgegangen sind“. Das macht sie aber nicht wertlos, sondern zu einem Teil konservierter Stadtgeschichte.

Text: Franziska Walser