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„Für uns eine unzensierte Möglichkeit, Ideen zu entwickeln“

Im Berliner Ensemble kommen Publikum und Theatermitarbeiter*innen nach der Vorstellung regelmäßig miteinander ins Gespräch. Was aber tun, wenn nur ein kleiner Teil des Publikums sich das Fragen zutraut? Der Ansatz des Berliner Ensemble: Fragepostkarten erlauben anonyme Wortmeldungen. Wie man im Zuge eines Digitalprojekts wie ‚Culture meets Coder‘ zu einer so klassisch analogen Lösung kommt, verrät die Theaterpädagogin Dr. Geraldine Blomberg.

Brainstorming-Workshop zur Ideenfindung, Foto: Neeeu GmbH

Was verbirgt sich hinter den Publikumsgesprächen am Berliner Ensemble?

Dr. Geraldine Blomberg: Die Publikumsgespräche sind ein an vielen Theatern ganz übliches Format. Nach der Vorstellung bringt man die Produktionsteams, die Regie und das Ensemble mit dem Publikum zusammen. Die Theatermitarbeiter*innen sitzen dabei oft auf einem Podium und beantworten Fragen der Moderation und des Publikums. An sich ist es ein schönes Format, weil es die Möglichkeit bietet halbprivat mit den Schauspieler*innen zu sprechen und dabei das Handwerkliche und den Schaffensprozess im Theater kennenzulernen.

Warum habt ihr das Thema im vergangenen Jahr bei ‚Culture meets Coder‘ eingebracht?

Bei einigen Publikumsgesprächen sind bis zu 250 Personen im Raum. Per Handzeichen wird angezeigt, dass man eine Frage hat und erhält dann ein Mikrofon. Man muss sich also recht stark exponieren. Beim bisherigen Format haben sich eher solche Menschen eingebracht, die öfter ins Theater gehen und sich auch trauen, sich zu Wort zu melden. Der Altersdurchschnitt dieser Personen ist recht hoch. Jüngere und/oder theater(diskurs)unerfahrene und/oder nicht deutsch-muttersprachliche Besucher*innen bleiben den Gesprächen aktuell eher fern oder bringen sich nicht aktiv ein. Unsere Motivation für ‚Culture meets Coder‘ war, durch digitale Kommunikationsmittel eine gesteigerte Teilhabe einer größeren Gruppe an Zuschauer*innen zu ermöglichen.

Im Zuge des Projekts habt ihr dann Methoden aufgegriffen, die man eher aus der Design- und Softwareentwicklung kennt…

Wir sind sehr ergebnisoffen in diesen Prozess gestartet, hatten zwar einige Impulse von außen eingeholt, aber noch nicht die eine technische Lösung vor Augen. Die Frage der Publikumsbeteiligung lässt sich nur durch das Austesten mit unseren Besucher*innen beantworten.

Für uns war es deshalb ein großes Anliegen, möglichst praxisorientiert verschiedene Ideen mit Prototypen auszuprobieren. Deshalb haben wir mit der Agentur Neeeu einen eintägigen Design-Thinking-Workshop durchgeführt. Wir wurden dabei zur Arbeit in mehreren Phasen angeleitet: In einer Brainstormingphase wurde die Ausgangslage beschrieben und schnell möglichst viele Ideen skizziert.

In der Fokussierungsphase haben wir dann mehrere Ideen aus dem Brainstorming bewertet. Auf dieser Basis ist ein ganz einfacher Prototyp entstanden, den wir – begleitet von unserer Agentur – hier im Haus getestet und über Fragebögen evaluiert haben. In unserem Fall also ein Postkartenprototyp mit zugehöriger Produktions-, Ausgabe- und Auswertungslogistik. Inzwischen haben wir eine verfeinerte Variante implementiert: Beim Eintritt ins Foyer oder in den Saal erhalten Besucher*innen durch das Einlasspersonal eine gestaltete Postkarte, die zum Fragenstellen einlädt. Im Idealfall sind alle anwesenden Kolleg*innen des Abenddienstes in der Lage, Rückfragen der Besucher*innen zum Prozedere zu beantworten. Vor dem Publikumsgespräch werden die Karten eingesammelt, an einem eigens dafür bereitgestellten Rahmen an der Wand angebracht und dann durch die Moderation und das Ensemble zur Beantwortung ausgewählt.

Welche Ideen waren noch im Pool der Möglichkeiten?

Es gab – wenn man das so trennen mag – digitale und analoge Lösungen: von Frage-Antwort-Apps, oder Tablet-Computern die herumgereicht werden bis hin zum ganz klassischen Postkartenformat. Es gab aber auch unkonventionelle Vorschläge wie etwa zu einem riesigen Kostüm, das aussieht wie ein Ohr und mit dem jemand durch das Foyer läuft. Man könnte dem ‚Ohr‘ die eigene Frage einflüstern, die aufgezeichnet und später im Publikumsgespräch wieder aufgegriffen würde. Es war also erst einmal eine sehr unzensierte Möglichkeit Ideen zu entwickeln.

Ein offenes Ohr zum Fragenstellen… klingt auf den ersten Blick recht charmant. Nach welchen Kriterien ist dann aber die Auswahl getroffen worden?

Auf den ersten Blick wirkt vieles ansprechend, was zählt ist aber der zweite, genauere Blick. Wir haben die Ideen nach fünf Kriterien bewertet: Authentizität, Kosten, Effizienz, Publikumsbezug und Unabhängigkeit, also wie viele verschiedene Abteilungen des Theaters involviert sein müssen, um diese Lösung zu realisieren. Die verschiedenen Kriterien haben wir in einer Matrix gleichwertig angeordnet. Aus dem Brainstorming heraus wurden die fünf Ideen ausgewählt, die am meisten Klebepunkte hatten. Jeder von uns durfte hierzu fünf Klebepunkte vergeben. Die fünf Ausgewählten wurden dann alle jeweils einzeln auf unserer Kriterien-Matrix bewertet.

Authentizität war für uns ganz zentral. Wir haben überlegt, ob es Lösungen gibt, die für das Theater Sinn machen, weil sie sich etwa gut in das vorhandene Methodenrepertoire fügen oder man einer ähnlichen Situation ohnehin vor Ort begegnet. In der Diskussion war etwa ein Applaus-o-meter – also Applaus als Form der Äußerung einzusetzen. Das Setting ist auch wichtig: Wir haben ein sehr diverses Publikum, aber natürlich sind dabei auch viele ältere Personen, die einfach kein Smartphone besitzen. Außerdem ist das Gebäude historisch und verfügt über kein WLAN. Ansätze die ein hohes Datenvolumen beanspruchen, fallen also schon einmal heraus.

Welche Idee hat sich als absolut nicht haltbar herausgestellt?

Ganz klar: „Fragen sammeln auf Screens und Monitoren im Foyer“ als auch „Fragen via Social Media/Twitter vorab“. Ein Twitter-Q&A ist zu weit weg von der jeweiligen Vorstellung, um die es bei den Publikumsgesprächen ja geht. Die Gespräche finden oft nur einmal nach der Vorstellung statt, im direkten Beisein der Schauspieler*innen und sind oft sehr situationsspezifisch, da sie genau die Personen adressieren, die an diesem Abend die Vorstellung gemeinsam erlebt haben. Anonymes Fragen aus der Ferne via Social Media erschien uns nicht authentisch genug.

Die Screen-im-Foyer-Lösung ist wiederum schlecht bewertet worden, da der Aufwand hier nicht im Verhältnis zum Ausgangsproblem steht. Screens sind sehr wartungsintensiv und es braucht zudem Intermediäre, die zunächst die eingegebenen Fragen sammeln, sichten und zur Moderation weiterleiten müssten. Trifft man vorab eine Auswahl? Wie geht man mit Fragen um, die von Menschen gestellt wurden, die dann nicht im Publikumsgespräch anwesend sind? Uns schien, dass dabei sehr viel Unmut und ein Gefühl von Intransparenz produziert werden könnte.

Letztlich seid ihr dann zu einer sehr klassisch-analogen Lösung gekommen: Fragenstellen per Postkarte…

Genau, es muss nämlich nicht immer eine App sein. Wir sind mit Design-Thinking-Methoden – also Methoden, die gern im Kontext digitaler Produktentwicklung eingesetzt werden – letztlich bei einer analogen Lösung angelangt. Entscheidend ist – ganz praktisch gesprochen – die Verhältnismäßigkeit. Der Spielbetrieb am Berliner Ensemble ist sehr, sehr eng getaktet. Es hätte keinen Sinn gemacht, von außen dem Team eine digitale Anwendung überzuhelfen, ungeachtet der Umsetzungskapazitäten im Haus. Ich als Theaterpädagogin kann die Frageneinreichung mittels Postkarten eigenständig durchführen, ohne zu viele Akteure am Berliner Ensemble einbeziehen zu müssen.

Fragenpostkarten mit Hashtag am Berliner Ensemble
Prototyp für Fragenpostkarten mit Hashtag

Was würdest du anderen Institutionen raten, die dieses Methodenset anwenden möchten?

Tatsächlich war die Terminfindung sehr aufwendig. Das klingt trivial, ist es aber nicht: Ein Grundgedanke der Brainstorming-Workshops ist, dass sie möglichst interdisziplinär sind und sich sehr diverse Stimmen beteiligen. Mitglieder des Ensembles, die Theaterleitung, Pädagog*innen und Technik an einen gemeinsamen Tisch zu bekommen ist nicht einfach. Es sollte genug Energie im Vorfeld eingesetzt werden, um eine möglichst vielfältige Beteiligung sicherzustellen. In einer größeren Institution ist gerade die interne Kommunikation sehr wichtig – also die Frage, wie man alle ins Boot holt, nachdem man Ideen ausgewählt und getestet hat.

Wirkt eure Erfahrung aus den Workshops in eurer jetzigen Arbeit noch nach?

Ich finde schon. Der Denkraum zu Beginn von neuen Prozessen ist größer. Wir nehmen die Ressource ‚Brainstorming‘ sehr viel ernster. Faszinierend war auch die schnelle Entscheidungsfindung angesichts der vielen Ideen über die Kriterienmatrix und Punktbewertung. Diese sehr niedrigschwellige, aber effiziente Priorisierungsmethode ohne langwierige Diskussion will ich weiter nutzen. Ebenfalls Nachklang hatte das Arbeiten mit Prototypen – also der Mut, Dinge einfach gemeinsam mit unserem Publikum auszuprobieren und dann zu evaluieren. Das Publikum im Entwicklungsprozess als meinungsstark und impulsgebend anzusehen ist etwas, das definitiv nachwirkt.

Die Fragen stellte: Silvia Faulstich

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